"Die Deutschen haben einen Ruf, den sie nicht verdienen"

  30 Auqust 2020    Gelesen: 611
  "Die Deutschen haben einen Ruf, den sie nicht verdienen"

Die Uhr tickt: Im Oktober muss der Deal zwischen Großbritannien und der EU stehen, um einen harten Brexit am 31. Dezember zu verhindern – denn das Abkommen muss noch in allen nationalen Parlamenten ratifiziert werden. Sir Sebastian Wood, seit 2015 britischer Botschafter in Berlin, wird im September seinen Posten aufgeben und die heiße Verhandlungsphase von Großbritannien aus erleben. Mit ntv sprach er in seinem Abschiedsinterview über die Zukunft der deutsch-britischen Freundschaft, über deutsches Essen, deutschen Humor und therapeutische Spaziergänge mit seinem Golden Retriever Albi.

ntv: Herr Botschafter, Corona hat das Thema in den letzten Monaten massiv überlagert und aus den Medien verdrängt, doch bald wird es mit Wucht zurückkommen: der Brexit. Sind die Fronten so verhärtet, wie es aktuell wirkt? Oder glauben Sie, dass es noch zu einem Deal kommt?

Sebastian Wood: Ja, ich glaube, dass es noch zu einem Deal kommen kann. Natürlich stehen wir jetzt vor der letzten Phase sehr schwieriger Verhandlungen. Deshalb würde man erwarten, dass die Fronten etwas verhärtet sind. Doch es gibt mögliche Landungszonen. Dessen bin ich mir sicher. Wenn die EU bereit ist zu akzeptieren, dass Großbritannien ein völlig normales Handelsabkommen mit der EU in der Zukunft hat, vergleichbar mit Handelsabkommen mit Kanada oder Japan oder Singapur, die die EU schon mit diesen anderen Partnern vereinbart hat, dann werden wir einen Deal haben.

Und wenn nicht?

Was London nicht bereit ist zu akzeptieren, ist, dass Großbritannien nur deshalb besondere Verpflichtungen haben soll, weil wir früher Mitglied der EU waren und jetzt austreten. Das wäre aus britischer Sicht unfair. Für die britische Regierung ist das ganze Ziel des Brexit, dass wir danach genau wie Kanada oder Japan und Südkorea das Recht haben, eine unabhängige nationale Wirtschaftspolitik zu haben.

Würden Sie darauf wetten, dass der Deal rechtzeitig zustande kommt?

Persönlich bin ich ein Optimist. Ich glaube, dass die Chancen immer noch gut sind. Aber wenn wir das nicht hinkriegen, werden wir eine wichtige Möglichkeit verpasst haben. Es wäre schlimm für beide Seiten, wenn es überhaupt kein Handelsabkommen zwischen uns gibt. Ich möchte noch einmal betonen: Das, was wir in Großbritannien jetzt wollen, ist ein völlig normales – ich könnte sogar sagen: stinknormales Handelsabkommen. Wie Kanada oder Japan oder Südkorea.

Die ja alle ein bisschen weiter entfernt von uns sind als das Vereinigte Königreich.

Wir sind zu den gleichen Garantien für offenen und fairen Wettbewerb zwischen uns bereit wie in diesen bestehenden Handelsabkommen. Aber ohne Sonderpflichten für Großbritannien, nur weil wir früher EU-Mitglied waren.

In der EU herrscht Angst vor Wettbewerbsverzerrungen durch eine unabhängige britische Wirtschaftspolitik, den Briten geht es wiederum um ihre Souveränität. Aktuell ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass es am Ende doch zu einem harten "no deal Brexit" kommt. Was ist in den letzten Jahren schiefgelaufen, dass man sich nicht schneller nähergekommen ist?

Ich glaube, es war vorhersehbar, dass es schwierige Verhandlungen werden. Und so ist es gekommen. Zur Angst vor möglichen Wettbewerbsverzerrungen: Die EU war mit TTIP bereit, ein Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten zu vereinbaren. Leider ist es noch nicht ratifiziert worden, aber es wurde mit der EU und zwischen den Regierungen ausgehandelt. Und darin gibt es verschiedene Bedingungen, die garantieren sollen, dass der Wettbewerb zwischen beiden Seiten fair bleibt. Großbritannien ist bereit, die gleichen Bedingungen zu akzeptieren. Wenn also die EU bereit war, ein solches Abkommen mit den Vereinigten Staaten zu haben – warum dann nicht mit Großbritannien?

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wird nachgesagt, dass er – anders als Angela Merkel – bereits im vergangenen Jahr einen harten Brexit akzeptiert hätte. Ein Franzose ist Chefunterhändler der EU für den Brexit. Welche Rolle spielt diese Ménage-à-trois, dieses Dreiecksverhältnis zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland?

Der Verhandlungsstil von Frankreich im Vergleich mit Deutschland ist natürlich anders. Aber ist es nicht meine Rolle als britischer Botschafter zu beurteilen, wie die verschiedenen Mitgliedsstaaten sich verhalten in den Verhandlungen.

Anders gefragt: Glauben Sie, dass der bekanntlich risikofreudige britische Premier Boris Johnson darauf zockt, dass Bundekanzlerin Merkel am Enden einen harten Brexit wird vermeiden wollen?

Natürlich hat Deutschland in den kommenden Monaten wegen der EU-Ratspräsidentschaft eine besonders wichtige Rolle. Und Angela Merkel ist natürlich die erfahrenste Politikerin, die erfahrenste Regierungschefin in Europa. Ende letzten Jahres, als wir das Austrittsabkommen vereinbart haben, damals hat sie eine sehr, sehr wichtige Rolle gespielt. Und das wird wieder der Fall sein. Davon bin ich überzeugt. Aber am Ende des Tages müssen beide Seiten eine Lösung finden, die mit ihren jeweiligen Interessen vereinbar ist.

Der Vorwurf des Rosinenpickens, des "Cherry Picking", wird weiterhin erhoben. Nervt Sie dieses Wort?

Natürlich habe ich das während meiner Amtszeit als britischer Botschafter so oft gehört, dass es mich manchmal ein bisschen nervt. Wir müssen ein ausgeglichenes Abkommen zwischen uns finden, das für beide Seiten akzeptabel ist. Wie andere ausgeglichene Handelsabkommen , die die EU schon mit anderen wichtigen Partnern vereinbart hat. Deshalb sollte man nicht von Rosinenpickerei sprechen, sondern von der Herausforderung: Wie gestalten wir ein Abkommen, auf das sich beide Seiten verpflichten?

Sie wollten nicht wetten, dass es auf jeden Fall noch einen Deal gibt. Mit Blick auf Brüssel, Berlin und Paris gewinnt man den Eindruck, dass dort die Auffassung herrscht, ein harter Brexit wäre für Großbritannien schlimmer als für die EU oder für Deutschland. Ist das so?

Noch wichtiger als ein Deal ist für die britische Regierung, dass Großbritannien nach dem Brexit eine unabhängige Wirtschaftspolitik haben kann. Das ist die oberste Priorität für London. Wenn es keinen Deal zwischen uns gibt, wäre es schade für beide Seiten. Beide Seiten könnten es aber überleben. Wenn wir in Zukunft zurückblicken, werden wir feststellen, dass bereits zum jetzigen Zeitpunkt andere Fragen für uns alle noch wichtiger sind. Die Pandemie, wie wir mit dem Klimawandel umgehen, die Beziehungen zu China.

Sie waren Botschafter in China, bevor Sie nach Berlin kamen. Wie ist Ihre Sicht auf die deutsche China-Politik? Sind wir zu egoistisch oder zu naiv?

Ich finde, dass die deutsche Politik gegenüber China der britischen sehr ähnlich ist. Natürlich wollen wir beide unsere Werte vertreten. Wir machen uns Sorgen über Aspekte der chinesischen Innenpolitik, die wir inakzeptabel finden. Wir machen uns Sorgen um Menschenrechte in China. Aber wir wissen auch, dass China eine großartige Zivilisation ist und jetzt vielleicht die größte Volkswirtschaft der Welt geworden ist. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass nächstes Jahr die Hälfte des globalen Wachstums in China passieren wird. Also mehr als in Europa, in den Vereinigten Staaten, in Japan zusammen! Das können wir nicht ignorieren. Und deshalb glaubt die britische Regierung wie die in Deutschland, dass der Versuch, uns irgendwie von China zu entkoppeln, keine gute Idee wäre. Dann hätten wir keinen Einfluss mehr. Die Idee eines neuen Kalten Kriegs mit China finde ich persönlich fast verrückt. Das würde niemandem gut tun.

Zurück zum deutsch-britischen Verhältnis. Die britische Botschaft hat eine wunderbare Corona-Maske herstellen lassen: Die Flaggen unser beiden Länder und der Hashtag "Freundship". Was macht denn die Freundschaft zwischen Deutschland und Großbritannien aus?

Ich weiß, dass das Ergebnis des Referendums für viele in Deutschland eine große Enttäuschung war. Das habe ich als Botschafter fast jeden Tag seit dem Referendum gespürt. Aber in derselben Zeit habe ich erlebt, wie wir in anderen Bereichen noch enger zusammengearbeitet haben als in der Vergangenheit.

In welchen?

Zum Beispiel in der Außen- und Sicherheitspolitik. Wir sehen die Welt immer noch auf ähnliche Weise. Wenn es um Fragen des Atomabkommens mit dem Iran geht, bei Syrien, Libyen oder dem Umgang mit der Türkei, das transatlantische Bündnis, die Zukunft der Nato – in all diesen besonders wichtigen Fragen sind Großbritannien und Deutschland der völlig gleichen Meinung. Deshalb bin ich sicher, dass die außenpolitische Zusammenarbeit zwischen uns auch in Zukunft sehr,  sehr stark bleiben wird und muss.

Sie leben seit 2015 in Deutschland. Seit dem Brexit-Referendum 2016 gab es 32.000 Britinnen und Briten, die sich hier haben einbürgern lassen. Haben Sie selber jemals die Versuchung verspürt, einen deutschen Pass zu beantragen?

Nein, das nicht. Aber meine Frau und ich haben eine sehr große Debatte innerhalb der Familie gehabt, ob wir nach meiner Amtszeit einfach hier in Berlin bleiben sollen.

Sie wären nicht der erste.

Ja, eine Wohnung mieten, Arbeit hier in Deutschland finden und hier bleiben. Es war für uns eine wahnsinnig schwierige Entscheidung. Wir haben schließlich beschlossen, dass es wenigstens zunächst besser wäre, nach England zurückzukehren, wieder näher bei der Familie, bei alten Freunden zu sein. Aber in der Zukunft…

Was hat Sie in Ihrer Berliner Zeit am meisten geärgert?

Ich war manchmal frustriert, dass nach dem Ergebnis des Referendums viele in Deutschland der Meinung waren, dass Großbritannien eine völlig neue Persönlichkeit hat. Dass wir über Nacht kein weltoffenes Land mehr sind, ausländerfeindlich und so weiter. Ich wusste, dass das ein völlig verzerrtes Bild von Großbritannien war. Aber das musste ich immer wieder erklären. Jetzt haben wir bewiesen, dass Großbritannien dieselbe Persönlichkeit hat, auf internationaler Ebene.

Inwiefern?

Wir setzen uns nach wie vor für wichtige Ziele ein. Wir werden im kommenden Jahr Gastgeber der UN-Klimakonferenz COP 26 sein, die internationalen Bemühungen anführen, Klimawandel zu verlangsamen. Wir bleiben ein starker Verfechter für Menschenrechte, für offenen Welthandel, für eine gut funktionierende Weltgesundheitsorganisation. In all diesen Bereichen bleiben wir das gleiche Land wie früher. Allein die Frage der EU-Mitgliedschaft wird in Großbritannien ganz anders beantwortet als hier in Deutschland. Das hat mit unserer Geschichte zu tun, die sehr unterschiedlich ist und zu einer ganz anderen Haltung gegenüber der EU führt als in Deutschland.

Was hat Sie an Deutschland am meisten überrascht?

Der Sinn für Humor. Die Deutschen haben einen Ruf, den sie eigentlich nicht verdienen – dass es keinen Sinn für Humor in diesem Land gibt. Das finde ich persönlich völlig falsch. Es hat vielleicht etwas damit zu tun, dass es im öffentlichen Bereich nicht so viele Witze gibt. Zum Beispiel hört man in einer parlamentarischen Debatte nur wenige witzige Bemerkungen. Im britischen Parlament ist das ganz anders. Es gibt lustige Debatten, bei uns ist das völlig normal. Aber in privaten Gesprächen gibt es viel Humor in Deutschland. Das hat mir sehr gefallen, und es hat mich auch ein bisschen überrascht. Eine nette Überraschung.

Was werden Sie vermissen?

Natürlich unsere Freunde. Und das wunderbare deutsche Essen.

Was schmeckt Ihnen besonders?

Weißwurst finde ich toll. Unser Chefkoch ist ein wunderbarer Mann, der aus Bayern kommt und ab und zu Weißwurst in der Residenz hat. Und wir werden natürlich den wunderbaren Grunewald vermissen, er ist ja direkt nebenan. Ich bin jeden Morgen mit dem Hund unterwegs im Wald. Wir gehen täglich spazieren, das wird auch er sehr vermissen.

Das Personal der Residenz hat den Golden Retriever sehr ins Herz geschlossen. Er zieht mit nach Großbritannien?

Ja. Albie ist ein deutscher Hund, in Brandenburg geboren. Ich habe ihn nicht weit von Frankfurt an der Oder gefunden. Und manchmal, wenn ich besonders frustriert war, habe ich das Leben mit dem Hund sehr therapeutisch gefunden. Jetzt kreisen alle Zukunftspläne um den Hund. Wird es okay für Albie sein? Wird er unser neues Haus und den Lebensstil genießen oder nicht – das ist die wichtigste Frage (lacht).

Ganz, ganz herzlichen Dank für das Gespräch und alles Gute für den Umzug.

Mit Sir Sebastian Wood sprach Tanit Koch

Quelle: ntv.de


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