Die versuchte Erstürmung des Reichstagsgebäudes durch rechtsextreme Demonstranten am Rande der Kundgebung gegen die staatliche Corona-Politik hat breite Empörung ausgelöst. "Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie. Das werden wir niemals hinnehmen", erklärte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Wer sich über die Corona-Maßnahmen ärgere oder ihre Notwendigkeit anzweifele, könne das tun, auch öffentlich, auch in Demonstrationen. "Mein Verständnis endet da, wo Demonstranten sich vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen lassen", so Steinmeier.
Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer verurteilte die Ereignisse vom Samstagabend scharf. "Das Reichstagsgebäude ist die Wirkungsstätte unseres Parlaments und damit das symbolische Zentrum unserer freiheitlichen Demokratie. Dass Chaoten und Extremisten es für ihre Zwecke missbrauchen, ist unerträglich", sagte Seehofer der "Bild am Sonntag". Der Staat müsse "gegenüber solchen Leuten mit Null-Toleranz und konsequenter Härte durchgreifen". Zugleich betonte der CSU-Politiker, dass Meinungsvielfalt ein "Markenzeichen einer gesunden Gesellschaft" sei. Die Versammlungsfreiheit habe aber "dort ihre Grenzen, wo staatliche Regeln mit Füßen getreten werden".
Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz schrieb auf Twitter: "Nazisymbole, Reichsbürger- & Kaiserreichsflaggen haben vor dem Deutschen Bundestag rein gar nichts verloren." Auch Bundesaußenminister Heiko Maas twitterte: "Reichsflaggen vorm Parlament sind beschämend." Zwar habe jeder das Recht, über den Umgang mit der Coronavirus-Pandemie zu streiten und für seine Meinung zu demonstrieren. Allerdings solle dafür niemand "Rechtsextremen hinterherlaufen, PolizistInnen gefährden und viele einem Infektionsrisiko aussetzen", schrieb Maas.
Am Samstagabend hatten nach Angaben einer Polizeisprecherin mehrere Hundert Demonstranten eine Absperrung am Reichstagsgebäude in Berlin durchbrochen und waren auf die Reichstagstreppe gestürmt. Viele trugen die von Reichsbürgern verwendeten schwarz-weiß-roten Reichsflaggen bei sich. Im Internet kursierende Videos zeigen, wie die Menschen direkt vor der Tür des Parlamentsgebäudes stehen. Nur drei Polizisten standen ihnen noch im Weg. Dennoch gelang es ihnen, die Demonstranten abzudrängen.
Der Landesverband Thüringen der Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisierte die Minimalbesetzung an dem symbolträchtigen Ort: "Wir sind dankbar, dass diese drei Kollegen nicht zurückgewichen sind", twitterten die Beamten. "Wenn drei Polizisten die letzte Bastion vor der Erstürmung des Reichstagsgebäudes sind, muss das geklärt werden. Heute steht die Demokratie in Deutschland auf dem Spiel."
Der Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz erklärte dazu: "Wir können nicht immer überall präsent sein, genau diese Lücke wurde genutzt, um hier die Absperrung zu übersteigen, zu durchbrechen, um dann auf die Treppe vor dem Reichstag zu kommen."
Vorwürfe an Verfassungsschutz
Der CDU-Politiker Norbert Röttgen nannte die Bilder aus dem Zentrum der Hauptstadt "beschämend". "Über dem Westportal des Reichstagsgebäudes steht 'Dem deutschen Volke'. Die absolute Mehrheit der Deutschen will keine Reichsfahnen auf den Stufen zu ihrem Parlament sehen", erklärte Röttgen, der für den CDU-Vorsitz kandidiert, auf Twitter.
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil warf die Frage auf, weshalb der Verfassungsschutz nach eigenen Angaben im Vorfeld keine Hinweise darauf entdeckt habe, "dass hier Rechtsextreme versuchen, diese Demonstration zu unterwandern". Die Arbeit des Inlandsgeheimdienstes sei zu überprüfen, sagte Klingbeil der "Bild"-Zeitung. Zudem betonte er, es sei "völlig legitim, dass man gegen Politik demonstriert, dass man Fragen stellt und Sachen kritisiert". Dies gehöre zur Demokratie dazu. Die Bilder von militanten Reichsbürgern und Nazis machten ihn aber wütend und fassungslos.
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt nannte die Bilder "erschütternd". Vor dem Reichstagsgebäude hätten Demonstranten versucht, die Demokratie anzugreifen. "Dass ihnen das nicht gelingt, nicht heute, niemals, ist unser aller Auftrag", appellierte sie auf Twitter.
Geisel: Ereignisse vorhersehbar
Der Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, warnte vor möglichen Folgen der Corona-Proteste. "Solche Demonstrationen sind für radikale Bewegungen ein ideales Umfeld, um immer mehr Menschen für ihre Ideologien zu gewinnen", sagte Fiedler der "Rheinischen Post". "Dort mischen sich Feinde der Demokratie mit Teilen der gesellschaftlichen Mitte, Verschwörungstheorien können so immer schneller um sich greifen."
Berlins Innensenator Andreas Geisel bezeichnete die Ereignisse als vorhersehbar. "Es war erwartbar, was heute passiert ist", sagte der SPD-Politiker in der ARD. An einigen Stellen in der Stadt kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Geisel hatte die Proteste im Vorfeld verboten, Gerichte kippten die Entscheidung aber. Der Innensenator verwies darauf, dass sich am Samstag nicht nur Menschen versammelt hätten, die an einzelnen Entscheidungen der Regierung in Corona-Sachen Kritik üben, sondern die an "unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung insgesamt Zweifel hegen und sie angreifen wollen". Diese Menschen seien radikalisiert. Er glaube nicht, "dass es der Demokratie dient, wenn wir uns wegducken und keine Haltung zeigen".
Nach Schätzungen der Behörden nahmen an den Protesten in der Stadt insgesamt rund 38.000 Menschen teil. Wie Innensenator Geisel berichtete, wurden über den Tag verteilt rund 300 Menschen festgenommen - allein vor der russischen Botschaft etwa 200, darunter der Vegan-Koch Attila Hildmann, der sich selbst "ultrarechts" und einen Verschwörungsprediger nennt. Laut Geisel flogen vor dem Botschaftsgebäude unter anderem aus einer Menge von rund 3000 sogenannten Reichsbürgern und Rechtsextremisten Steine und Flaschen auf die Polizei. Laut Polizei gab es dort auch Gefangenenbefreiungen.
Quelle: ntv.de, cri/dpa/AFP
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