Dimitris Avramopoulos: Ich stimme mit der Bundeskanzlerin überein. Angela Merkel ist eine starke Befürworterin einer europäischen Lösung. Sie kämpft dafür, die Einheit in Europa zu bewahren.
Die Welt: Wird Griechenland denn derzeit alleine gelassen?
Avramopoulos: Griechenland ist nicht alleine. Europa steht zu Griechenland. Auch deswegen haben wir ein Programm zur Nothilfe auf den Weg gebracht. Schon in den vergangenen Monaten haben wir Griechenland mit aller Kraft unterstützt.
Die Welt: Trägt Griechenland nicht auch eine Mitschuld an der Eskalation der Flüchtlingskrise? Das Land hat lange nichts getan und europäische Hilfe beim Grenzschutz großzügig abgelehnt.
Avramopoulos: Im vergangenen Jahr konzentrierte sich die Regierung in Athen auf die Bewältigung der Euro-Krise. Wir sehen nun allerdings Fortschritte. Mittlerweile sind vier von fünf Hotspots funktionsfähig.
Die Welt: Der europäische "Plan A" sieht vor, dass die Türkei die Außengrenzen schließt. Wie fällt die Bilanz aus?
Avramopoulos: Wir sehen bereits einige positive Resultate des Aktionsplans mit der Türkei. In den letzten Tagen hat die Türkei Griechenland rund 300 illegale Migranten abgenommen – das ist ein sehr gutes Zeichen. Doch der vereinbarte Aktionsplan wurde noch nicht vollständig umgesetzt. Sicher ist: Ohne Kooperation mit der Türkei sind wir nicht in der Lage, die Situation effektiv in den Griff zu bekommen.
Die Welt: Auch der Nato-Einsatz verzögert sich. Offenbar haben die Türken Probleme damit, dass die Schiffe in ihrem Hoheitsgewässer patrouillieren sollen.
Avramopoulos: Die Nato-Mission wird einen wichtigen Beitrag leisten. Sie wird durch die Grenzschutzagentur Frontex unterstützt und später durch den europäischen Grenzschutz. Wir werden auf ein europäisches Problem auch eine europäische Antwort finden.
Die Welt: Für wie lange?
Avramopoulos: Die Flüchtlingskrise wird nicht von heute auf morgen beendet sein. Wir schaffen dauerhafte Strukturen. Und wir wappnen uns für alles, was was künftig einmal passieren könnte.
Die Welt: Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn beklagt, in Europa herrsche Anarchie.
Avramopoulos: Das ist ein sehr starkes Wort. Aber ich verstehe, warum er das sagt. Er möchte Druck ausüben. Ein Zusammenbruch von Schengen wäre der Anfang vom Ende des europäischen Projekts. Wir müssen zusammenhalten, um Schengen zu schützen. Das ist die wichtigste Errungenschaft der europäischen Integration.
Die Welt: Wie soll das gelingen?
Avramopoulos: Wir werden am Freitag einen Fahrplan beschließen. Bis November sollen alle Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums wieder aufgehoben werden. Jeder wird sich dann an die Regeln halten müssen.
Die Welt: Was heißt das konkret?
Avramopoulos: Wir müssen zunächst einmal auf all die Zäune an unseren Grenzen verzichten. Und alle Länder müssen die Regeln der Genfer Konvention beachten. Jeder Flüchtling hat Anrecht auf Schutz und eine menschliche Behandlung. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen nicht mehr einfach von einem Mitgliedstaat in den nächsten durchgereicht werden. Wer die Schengen-Einreisebestimmungen nicht erfüllt und auch kein Asyl beantragt, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte, sollte an der Grenze zurückgewiesen werden. Wir müssen umsetzen, was in den Verträgen festgeschrieben ist. Eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass die Außengrenzen wirksam geschützt werden. Darauf zielt unser Vorschlag eines gemeinsamen Europäischen Grenz- und Küstenschutzes.
Die Welt: Österreich würde sagen: Das machen wir doch längst!
Avramopoulos: Ich habe mich mehrfach mit meiner Freundin, der österreichischen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, ausgetauscht und dabei klargemacht, dass wir zu einer normalen Situation zurückkehren müssen.
Die Welt: Wann werden Sie also den Druck auf Österreich erhöhen?
Avramopoulos: Ich möchte jetzt niemanden bedrohen, sondern ich möchte überzeugen.
Die Welt: Das Problem ist Griechenland. Solange die Türen dort geöffnet sind, werden andere auf Grenzkontrollen nicht verzichten wollen.
Avramopoulos: Griechenland erhält bis Mai Zeit, die Außengrenzen zu schützen. Am 12. Mai ziehen wir Bilanz. Sollten wir bis dahin keinen Erfolg erkennen, werden wir ohne zu zögern die Voraussetzungen schaffen, dass die Grenzkontrollen in Europa verlängert werden können.
Die Welt: Griechenland soll bis Mai 100 Prozent der Flüchtlinge kontrollieren und registrieren?
Avramopoulos: Jeder ankommende Flüchtling muss ordentlich registriert werden. Auch Italien wird das garantieren müssen.
Die Welt: Droht andernfalls der Ausschluss einiger Staaten aus dem Schengenraum?
Avramopoulos: Es können keine Staaten ausgeschlossen werden. Dafür gibt es gar keine rechtlichen Möglichkeiten. Alle Staaten sind der Meinung, dass man den Schengenraum wieder normalisieren muss. Grenzkontrollen zwischen Schengenstaaten sollten der Vergangenheit angehören.
Die Welt: Wird Griechenland das denn überhaupt schaffen können?
Avramopoulos: Derzeit werden etwa 80 Prozent der Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen, registriert. Das ist eine positive Entwicklung. Bald schon sollen alle fünf Hotspots aktiv sein. Auch in Italien sind drei von sechs Hotspots aktiv.
Die Welt: Doch bei der Umverteilung von Flüchtlingen tut sich bislang nichts. Bislang wurden 660 Flüchtlinge verteilt – statt der vorgesehenen 160.000 Flüchtlinge.
Avramopoulos: Die Zahlen der umverteilten Flüchtlinge sind enttäuschend. Der EU-Gipfel kommende Woche ist von enormer Bedeutung. Die Staaten müssen beginnen, ihren Versprechungen Taten folgen zu lassen. Ich habe dies in Briefen an die Regierungen aller Mitgliedstaaten klargemacht.
Die Welt: Was sollte Mazedonien tun?
Avramopoulos: Ich würde vorschlagen, dass das Land besser mit den Nachbarn kooperiert. Durch die Grenzblockade riskiert es, zum Teil einer großen humanitären Krise zu werden. Grenzschließungen lösen die Probleme nicht. Die Ströme werden einfach nur umgeleitet.
Die Welt: Haben Sie konkrete Hinweise, dass die Flüchtlinge auf Alternativrouten ausweichen?
Avramopoulos: Noch nicht. Aber die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass jede Barrikade umgangen wurde. Es ist naiv, zu glauben, dass Zäune, Barrikaden oder eine raue See die Flüchtlinge abhalten können.
Die Welt: Wann werden Sie die Reform des Dublin-Systems vorstellen?
Avramopoulos: Wir werden Mitte März eine Idee vorstellen. Einen Monat späten kommt dann der konkrete Vorschlag. Die Zeit dazwischen Zeit nutzen wir für Diskussionen mit den Mitgliedstaaten.
Die Welt: Wird dieser Vorschlag dann auch ein System zur permanenten Verteilung von Flüchtlingen in Europa beinhalten? Die Staaten aus Osteuropa sperren sich dagegen.
Avramopoulos: Wir halten an den Plänen für einen permanenten Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge fest. Er wird in Verbindung mit den Dublin-Reformplänen stehen. Wir werden außerdem Vorschläge vorlegen, wie die Asylstandards in Europa weiter harmonisiert werden können.
Die Welt: Müssen wir denjenigen, die nicht aus humanitären Gründen fliehen, auch eine Möglichkeit bieten, legal nach Europa zu kommen?
Avramopoulos: Es muss legale Wege zur Einwanderung geben. Europa muss bereit sein, talentierte und gut ausgebildeten Menschen aufzunehmen. Ich werde schon bald einen entsprechenden Vorschlag machen. Wir haben nun die Chance, bahnbrechende Regeln anzunehmen und die europäische Politik zu konsolidieren.
Die Welt: Fürchten Sie eine Entfremdung Griechenlands von Europa?
Avramopoulos: Die Finanzkrise hat einige negative Gefühle verursacht. 80 Prozent der Griechen sind allerdings Pro-Europäer. Sie glauben, dass Griechenland in der EU bleiben sollte. Und ich bin mir sicher, dass das auch die herrschende Meinung in Europa ist. Wie kann man sich Europa ohne Griechenland vorstellen?
Die Welt: Derzeit sieht es aus, als würde Griechenland ein einziger großer Hotspot werden.
Avramopoulos: Ich weiß nicht, warum das gesagt wird. Ein Hotspot ist kein Ort, sondern es ist ein System, in dem die Flüchtlinge ordentlich aufgenommen werden. Wenn wir das System nicht zum Laufen bringen, werden wir in Griechenland eine humanitäre Katastrophe großen Ausmaßes sehen. Das wäre nicht nur schlimm für Griechenland. Es wäre schlimm für ganz Europa.
Quelle : welt.de
Tags: