Sechs Stunden, nachdem Kujtim F. in der Wiener Innenstadt vier Menschen ermordet hatte, öffneten Ermittler seine Wohnung. Sie betraten ein weitgehend ausgeräumtes Apartment: Die wenigen verbliebenen Möbel waren als "Deckung für ein mögliches Schussgefecht aufgebaut", heißt es in einem Bericht über die Durchsuchung. Daneben fanden sich Schachteln für Munition und Reste von Klebeband, das der Terrorist zum Bau einer Sprengstoffgürtel-Attrappe verwendet hatte.
Kujtim F., 20, war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Bevor er am Abend des 2. November noch mehr Menschen umbringen konnte, war er von Sicherheitskräften erschossen worden. Seitdem durchleuchten Ermittler das Umfeld des islamistischen Attentäters. Wie kam er an die Tatwaffen, ein Kalaschnikow-Gewehr und eine Pistole der Marke Tokarev? Gab es Mitwisser oder Unterstützer? Und: Hatte er Kontaktleute bei der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), die den Anschlag für sich reklamiert hat?
Interne Akten der österreichischen Behörden, die der SPIEGEL und die österreichische Tageszeitung "Der Standard" einsehen konnten, liefern neue Details zu den Ermittlungen, in die auch das US-amerikanische FBI und das deutsche Bundeskriminalamt eingebunden sind. Und sie zeigen, dass die Verbindungen des Wieners Kujtim F. nach Deutschland offenbar enger waren als bislang bekannt.
Laut der Unterlagen besteht der Verdacht, dass der Anschlag mit einem Besuch zweier deutscher Islamisten bei dem späteren Attentäter in Verbindung stehen könnte. Akribisch rekonstruierten die Fahnder die Reise der Männer. Am Abend des 16. Juli bestiegen sie demnach um 18.20 Uhr am Dortmunder Flughafen eine Maschine der Billigairline Wizz Air nach Wien.
Der 19-Jährige aus Osnabrück und der 25-Jährige aus Kassel werden von den deutschen Sicherheitsbehörden seit Längerem als Islamisten eingestuft. Einer von ihnen soll Teil einer Chatgruppe gewesen sein, in der IS-Propaganda verbreitet wurde. Der andere stand nach SPIEGEL-Informationen vor einigen Jahren im Verdacht, sich dem IS in Syrien anschließen zu wollen. Auf seinem Handy soll er das Emblem der Terrormiliz gespeichert haben. Das Verfahren wurde damals jedoch eingestellt.
"Innereuropäisches Netzwerk"
Laut der Akten warnten die deutschen Behörden das österreichische Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) vor der geplanten Einreise der deutschen Islamisten im Juli: Gegen 20 Uhr sei mit ihrer Ankunft am Flughafen Wien-Schwechat zu rechnen.
Nach SPIEGEL-Informationen hatten die deutschen Ermittler eigentlich damit gerechnet, dass die beiden einen als Gefährder eingestuften Islamisten aus Norddeutschland besuchen wollten, der seit Januar 2020 in Wien lebte.
Die österreichischen Beamten schickten einen Observationstrupp an den Flughafen – und stellten fest, dass die beiden Wien-Besucher von Kujtim F. abgeholt wurden, dem späteren Attentäter. Ein Mazedonier fuhr die Islamisten in einem blauen Ford Focus Kombi in die Innenstadt. Um ein mögliches "innereuropäisches Netzwerk" von Islamisten mit "Bezügen zum IS" zu beobachten, blieben die Beschatter an der Gruppe dran.
Die beiden Deutschen blieben fünf Tage in der österreichischen Hauptstadt. Der Jüngere, ein Kosovare aus Osnabrück, übernachtete laut der Ermittlungen durchgehend beim späteren Attentäter Kujtim F. im 22. Bezirk. Der Ältere aus Kassel verbrachte einzelne Nächte in dessen Wohnung.
Immer wieder sollen die beiden und Kujtim F. sich in diesen Tagen mit weiteren Islamisten getroffen haben, in Parks, Restaurants oder Gebetshäusern. Eines der Treffen soll in der radikalen Tewhid-Moschee in Wien-Meidling stattgefunden haben – sie wurde nach dem Attentat geschlossen.
Zur selben Zeit hielten sich auch zwei Islamisten aus dem schweizerischen Winterthur in der Stadt auf, seit Jahren gibt es von dort Verbindungen in die österreichische Dschihadistenszene. Auch sie sollen sich laut der Akten mit dem späteren Attentäter und seinen Besuchern aus Deutschland getroffen haben – und ebenfalls bei Kujtim F. übernachtet haben.
Den Ermittlungen zufolge trafen sich die Schweizer in einer Wiener Moschee zudem mit einem weiteren Islamisten aus Deutschland – dem damals in Wien lebenden Gefährder aus Norddeutschland. Der Mann war 2018 in Hamburg zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, nachdem er erfolglos versucht hatte, nach Syrien zu gelangen und sich der Terrormiliz IS anzuschließen.
Ausflug zum Waffengeschäft
Für die österreichischen Sicherheitsbehörden sind die Treffen der Islamisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in jenen Julitagen kein Zufall. Nur einen Tag, nachdem Kujtim F.s Übernachtungsgäste aus Kassel und Osnabrück wieder abgereist waren, fuhr der spätere Attentäter in die Slowakei. Im Waffengeschäft "Luxury Guns" am Stadtrand von Bratislawa versuchte er, sich Munition für ein Kalaschnikow-Sturmgewehr zu kaufen.
Es bestehe der Verdacht, dass Kujtim F.s Treffen mit den Deutschen unmittelbar vor der Fahrt zu dem Waffengeschäft "etwas mit den Anschlägen zu tun haben könnte", heißt es in den österreichischen Ermittlungsunterlagen.
Die deutschen Fahnder sind mit ihrer Bewertung zurückhaltender. Bei den Bekannten des Attentäters in Deutschland wurden vor einer Woche zwar die Wohnungen durchsucht, Handys und andere elektronische Datenträger beschlagnahmt. Als Beschuldigte führte sie der Generalbundesanwalt jedoch zunächst nicht.
spiegel
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