"In Gesundheitsämtern gilt Alarmstufe Rot"

  30 November 2020    Gelesen: 289
"In Gesundheitsämtern gilt Alarmstufe Rot"

Schon in normalen Zeiten fehlten Tausende Stellen in den Gesundheitsämtern, sagt Ute Teichert, die Vorsitzende der Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Erst die Corona-Krise hat die Politik zu einem Kurswechsel bewogen.

ntv.de: Derzeit ist viel die Rede von Inzidenz-Werten und Lockdown-Verlängerungen, wenig von der Lage in den Gesundheitsämtern. Herrscht dort immer noch Alarmstufe Rot?

Ute Teichert: Alarmstufe Rot gilt nach wie vor, auch wenn verstärkt Hilfskräfte in den Gesundheitsämtern im Einsatz sind. Bundesweit haben wir vor allem über 5000 Bundeswehrsoldaten zur Unterstützung bekommen, auch aus anderen Bereichen kam zusätzliches Hilfspersonal. Aber die Kolleginnen und Kollegen, die seit Beginn der Corona-Krise im Einsatz sind, die sind ausgelaugt. Die machen seit Monaten Überstunden und sind mittlerweile häufig mit den Nerven durch.

Würde es helfen, wenn die Gesundheitsämter noch mehr Hilfskräfte bekämen?

Nein. Im Moment sagen die Gesundheitsämter, dass sie weitere Kräfte erst einarbeiten können, wenn die bereits angekommenen Aushilfen integriert sind. Die müssen geschult werden, die brauchen einen Arbeitsplatz, einen Rechner und ein Telefon. Wenn man auf einmal drei oder vier Mal so viel Personal zur Verfügung hat wie normalerweise, ist das durchaus eine Herausforderung.

Wie läuft das praktisch?

Ich weiß von Gesundheitsämtern, die Container auf dem Parkplatz aufbauen. Ein Gesundheitsamt hat die Volkshochschule aus dem Gebäude gedrängt und die Zimmer bezogen. Anderswo sind Gesundheitsämter in größere Trakte der Verwaltung umgezogen oder haben Räume angemietet. Das sind letztlich alles provisorische Lösungen, denn es musste schnell gehen.

Was könnten Bund und Länder jetzt noch tun, um den Gesundheitsämtern zu helfen?

Ein enormer Gewinn wäre es, wenn die Digitalisierung vorangetrieben würde. Das würde Arbeitsprozesse sehr erleichtern. Allerdings brauchen die Gesundheitsämter dann auch den notwendigen technischen Support - nebenbei ist das, gerade in der Krise, nicht zu bewältigen.

Passiert das denn?

Im Mai hat der Bund beschlossen, den Gesundheitsämtern 50 Millionen Euro für die Digitalisierung zur Verfügung zu stellen. Außerdem hat die Ministerpräsidentenkonferenz Mitte November entschieden, das Programm SORMAS zum Management von Kontaktpersonen und Kontaktketten über alle Gesundheitsämter auszurollen. Das wäre ein großer Vorteil, weil wir dann den Kontakt der Gesundheitsämter untereinander besser gewährleisten könnten. Im Moment haben wir noch das Problem, dass die Testergebnisse bei dem Gesundheitsamt auflaufen, das sie in Auftrag gegeben hat - zuständig ist aber das Gesundheitsamt am Wohnort des Betroffenen. Das betrifft vor allem Urlaubsregionen. Die haben viele positive Testergebnisse, für die sie nicht zuständig sind, weil die Leute woanders wohnen. Die Zuständigkeit weiterzugeben, ist derzeit häufig so gut wie unmöglich: Wenn das eine Gesundheitsamt beim anderen anruft oder eine Mail schickt, dann geht da unter Umständen keiner ans Telefon oder liest die Nachricht nicht, weil sie schon völlig überlastet sind. Fax oder Post sind da noch die sicherste Verbindung. Aber das bedeutet einen erheblichen Zeitverlust.

In asiatischen Ländern werden nicht alle Kontakte, sondern Cluster nachverfolgt. Wäre das ein Weg, um die Ressourcen weniger zu belasten?

Die deutschen Gesundheitsämter schauen bereits nach Clustern. Aber wenn ein Cluster nicht in einem, sondern in mehreren Gesundheitsämtern auftaucht, dann werden die jeweiligen Fälle nicht als Cluster entdeckt. Auch dafür wäre SORMAS sinnvoll. Wir müssen aber überlegen, ob wir bei der Kontaktverfolgung Cluster und Risikogruppen stärker priorisieren können. Hilfreich wäre es, wenn wir das auf verschiedene Schultern verteilen könnten. Schulen beispielsweise könnten Listen von Kontaktpersonen erstellen, wenn es dort Positivfälle gibt. Bei Gaststätten erwarten wir ja auch, dass sie uns die Daten übermitteln. In größeren Betrieben könnte der Betriebsarzt die Kontaktpersonen ermitteln und sie auch gleich über die Quarantäne aufklären. Das würde die Gesundheitsämter entlasten.

Halten Sie die jüngst beschlossenen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus für ausreichend?

Mit dem Wellenbrecher-Lockdown im November ist das exponentielle Wachstum gestoppt worden. Aber solange wir keine Reduktion der positiv Getesteten erreicht haben, ist nicht auszuschließen, dass sich die Zahlen schnell wieder nach oben entwickeln.

Wie bewerten Sie die Lockerungen zu Weihnachten?

Aus infektiologischer Sicht sind solche Lockerungen nicht nachvollziehbar, denn die Zahl der Infektionen soll ja verringert werden. Das klappt nur, wenn wir die Kontakte reduzieren. Aber natürlich gilt es da auch andere Aspekte abzuwägen, etwa die Frage der Akzeptanz. Politisch ist es daher vielleicht richtig, die Maßnahmen über Weihnachten etwas zu lockern.

Das erklärte Ziel der Maßnahmen ist ja, die Zahl der Neuinfektionen auf 50 pro 100.000 Einwohner eines Landkreises innerhalb von sieben Tagen zu drücken, damit die Gesundheitsämter die Nachverfolgung hinbekommen. Wäre es theoretisch auch möglich, die Nachverfolgung bei einem höheren Inzidenzwert zu gewährleisten?

Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Ich habe schon gezuckt, als im Frühjahr die 50 als Zahl in die Welt gesetzt wurde. Für die Arbeit der Gesundheitsämter in normalen Zeiten ist schon das viel zu hoch. Aber da waren noch nicht 5000 Bundeswehrsoldaten bei uns im Einsatz. Auch mit dieser Hilfe ist diese Zahl allerdings am oberen Rand des Machbaren - normalerweise geht man davon aus, dass ein Inzidenzwert von 35 von den Gesundheitsämtern zu bewältigen ist. Was uns jetzt hilft, ist die Reduzierung der Kontakte.

Inwiefern?

Für die Arbeit der Gesundheitsämter spielt nicht nur die Zahl der positiv Getesteten eine Rolle, sondern vor allem auch die Zahl der Kontakte, die diese hatten. Durch den Wellenbrecher-Lockdown haben wir eine Halbierung der Kontaktpersonen-Zahl erreicht. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Infizierter 100 Kontakte hatte oder nur 50. Das merken die Gesundheitsämter bereits.

Wie viele Menschen benötigt ein Gesundheitsamt für diese Aufgabe eigentlich?

Ursprünglich war die Vorgabe, dass ein Team von fünf Personen pro 20.000 Einwohner vorzuhalten ist. Mittlerweile bekommen wir die Rückmeldung aus den Gesundheitsämtern, dass das nicht mehr reicht, dass mindestens sieben oder acht nötig sind.

Das Bundesgesundheitsministerium hat dem öffentlichen Gesundheitsdienst vier Milliarden Euro versprochen. Ist das Geld schon bei Ihnen angekommen?

Die Bundesregierung hat im Sommer einen "Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst" beschlossen. Dass der Bund so viel Geld in die Gesundheitsämter steckt, ist ein großer Fortschritt. Damit sollen in den nächsten fünf Jahren 5000 neue Stellen geschaffen und eine verbesserte digitale Ausstattung aufgebaut werden. Der Pakt ist also nicht auf die Bewältigung der Pandemie ausgelegt, sondern ist zur nachhaltigen Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes konzipiert worden.

Sollen die Ämter fit gemacht werden für künftige Belastungen? Oder wird jetzt ein Kurs revidiert, der die Gesundheitsämter geschwächt hat?

Eindeutig Letzteres. Jetzt werden die Löcher eines löchrigen Eimers gestopft. Der Pakt ist gut, aber er war auch seit vielen Jahren überfällig. Und er ist sicherlich ausbaufähig. Nach unserer Schätzung haben wir einen Personalbedarf von 10.000 neuen Stellen. Der öffentliche Gesundheitsdienst ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten so runtergespart worden, dass er nicht mehr in der Lage ist, seine normalen Aufgaben zu erfüllen - geschweige denn auf eine globale Pandemie zu reagieren. Die Pandemie hat Schwachstellen, die schon lange da waren, für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht.

Mit Ute Teichert sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de


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