„Außer in Israel geht es Juden nirgends so gut wie bei uns“

  02 Februar 2021    Gelesen: 883
 „Außer in Israel geht es Juden nirgends so gut wie bei uns“

Den Krieg um Bergkarabach gewann Aserbaidschan auch dank israelischer Hilfe. Den jüdischen Staat und die muslimische Kaukasus-Republik verbindet eine besondere Geschichte. Sie begann lange vor Israels neuen Allianzen im Nahen Osten. Eine Spurensuche vor Ort.

In welchem Land der Welt passiert so etwas? „Es war im Jahr 2015, als sie den jährlichen Termin für das Zentralabitur bekannt gaben“, sagt Rabbiner Zamir Isayev, der Leiter der jüdischen Schule von Baku. „Und als wir den Termin erfuhren, hatten wir ein Problem. Denn das Abitur sollte an einem Samstag geschrieben werden, für alle Schüler verbindlich zur selben Uhrzeit. Am Schabbat! Was sollen jüdische Schüler da machen? Wir dürfen doch nicht arbeiten am Schabbat.“

Also hätten sie beim Bildungsministerium angerufen und die Sache vorgetragen. Und? Es sei schnell kein Problem mehr gewesen. „Dann durften die jüdischen Schüler zwei Tage vor allen anderen die Prüfungen ablegen“, erzählt der Rabbiner fröhlich. Mittlerweile melde sich das Ministerium schon, bevor es den Abiturtermin festlege. Nur um sicherzugehen, dass er nicht auf einen jüdischen Feier- oder Ruhetag fällt.

So ist das in Aserbaidschan. Einem Land, dessen Einwohner zu fast 99 Prozent Muslime sind. Aber die Aserbaidschaner und die Juden, das sei eben eine sehr besondere Geschichte, sagt der Rabbiner.

Es ist geradezu eine Erfolgsgeschichte, die auch hinter einer der wichtigsten militärischen Auseinandersetzungen der vergangenen Monate steht. Im November entschied sich der Dritte Karabach-Krieg zugunsten Aserbaidschans und brachte damit eine grundlegende Wende in einen der am längsten anhaltenden Konflikte seit Ende des Kalten Krieges.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte Armenien mit Unterstützung Russlands Bergkarabach erobert, ein mehrheitlich von Armeniern bewohntes Gebiet innerhalb Aserbaidschans, und noch weitere angrenzende Territorien der aserbaidschanischen Region Karabach. Doch auch nach dem Sieg der Armenier ging der Konflikt weiter. Als er Ende vergangenen Jahres wieder eskalierte, waren es die Aserbaidschaner, die siegten. Sie eroberten einen Teil Bergkarabachs zurück und dazu alle angrenzenden Gebiete, die fast 30 Jahre zuvor von Armenien besetzt worden waren.

Flaggen von Türkei, Pakistan und Israel

Wer geholfen hatte bei diesem historischen Triumph, das zeigten die Aserbaidschaner anschließend bei den Jubelfeiern. Da wurden Fahnen zusammen geschwenkt, die sonst nie nebeneinander wehen: Türkei, Pakistan, Israel. Während die Welt über die Annäherung des jüdischen Staates an arabische Länder staunt, ist diese muslimisch-jüdische Allianz im südlichen Kaukasus längst Tradition. Und sie bestimmt die politischen Realitäten am Boden.

„Wahrscheinlich waren die Waffenlieferungen Israels für Aserbaidschan noch wichtiger als jene aus der Türkei“, sagt Murad Salmanow, 31, Professor für internationale Politik an der traditionsreichen Öl- und Industrie-Universität Aserbaidschans. „Auch wenn Erdogan und Israel sich ansonsten nicht besonders gut verstehen – hier bei uns sind sie Partner. Sogar einige der israelischen Waffenlieferungen wurden über die Türkei nach Aserbaidschan transportiert“, erklärt Salmanow, der auch Präsident der jüdischen Organisation B’nai Brith in Aserbaidschan ist.

Der Türkei steht Aserbaidschan seit Jahrhunderten nah. Die Sprachen beider Länder ähneln sich sehr, und schon die Osmanen sahen das Turkvolk der Aseris als Verbündete im Ringen mit den russischen Zaren und den Persern, deren Reiche hier an den türkischen Machtbereich stießen. Als Aserbaidschan 1991 seine Unabhängigkeit von der UdSSR erklärte, war die Türkei das erste Land, das den neuen Staat anerkannte. Nur kurz darauf – schon als zweites Land, sagen manche – folgte Israel. Das war kein Zufall.

„Zwischen Juden und Aseris gab es schon immer ein Gefühl der Brüderlichkeit“, sagt Salmanow. „Schließlich leben hier schon seit mindestens 2000 Jahren Juden.“ Jahrhunderte bevor die Araber den Islam in den Südkaukasus brachten, gab es hier schon zahlreiche Gemeinden sogenannter Bergjuden – mit einer eigenen Sprache, die persische Elemente mit arabisch-hebräischen Besonderheiten kombinierte, und einer bis heute eigenen Tradition des Judentums, die für das Mystische besonders offen ist.

Woher sie einst kamen, ist ungewiss. Aufgrund der Sprache galten sie lange als Verwandte der iranischen Juden, genetische Untersuchungen weisen dagegen auf einen Ursprung in der Levante hin. „Sie könnten auch mit den Chasaren zusammenhängen“, sagt Salmanow und meint damit das Turkvolk, das im 8. Jahrhundert teilweise zum Judentum konvertierte. „Später kamen russische und georgische Juden hinzu. Und schon bevor die UdSSR unterging, setzten sie sich für gute Beziehungen zu Israel ein.“

Als im Jahr 1967 wieder Krieg zwischen Israel und fünf arabischen Staaten ausbrach, hätten die Rabbiner in Aserbaidschans Hauptstadt Baku Tag und Nacht für den jüdischen Staat gebetet, heißt es hier. Als Israel am sechsten Tag siegte, hätten die Juden von Baku sofort ein Fest im Zentrum der Stadt veranstaltet, zu dem auch alle anderen Bürger eingeladen waren. Dabei war die Sowjetunion damals der wichtigste Verbündete der arabischen Staaten und hatte sich klar gegen Israel gestellt.

Aber in Aserbaidschan herrschten eben eigene Gesetze. Vielleicht, weil in der zerklüfteten Landschaft des Kaukasus schon immer besonders viele und besonders unterschiedliche Gemeinschaften miteinander auskommen mussten. Weil man sich hier stets mit lokalen Allianzen gegen Einmischungen der benachbarten Großreiche zur Wehr setzte. Vielleicht auch, weil die bunt gewürfelte Bevölkerung in Aserbaidschan durch die frühen Ölfunde Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur ein gutes Auskommen, sondern auch ein besonderes Selbstbewusstsein gewonnen hatte. Heute ist es jedenfalls nicht nur die gemeinsame Geschichte, es sind auch konkrete Interessen, die Israel und Aserbaidschan verbinden.

Israel kann Aserbaidschans Öllieferungen gut gebrauchen. Die Aserbaidschaner profitieren vom israelischen Know-how in der Hochtechnologie. Der Handel zwischen den beiden kleinen Ländern betrug 2018 mehr als 1,4 Milliarden Dollar. Und beide Länder brauchen Freunde. Die Aserbaidschaner benötigen jede Unterstützung im Karabach-Konflikt. Die Israelis freuen sich über jeden muslimischen Verbündeten. Hinzu kommt Aserbaidschans besondere geografische Lage: An der Nordgrenze zum Iran gelegen, ist Aserbaidschan angeblich eine wichtige Basis für Israels Geheimdienstoperationen gegen die Islamische Republik, sei es in der Ausforschung ihrer Milizen oder bei Angriffen im Land wie bei der Tötung des Nuklearphysikers Mohsen Fakhrisadeh im November.

Dass Aserbaidschan Sympathien für Israels Iran-Politik haben könnte, ist naheliegend. Nicht nur, weil die Aseris ihre Unabhängigkeit seit Jahrhunderten durch Irans Großmachtanspruch bedroht sehen. Sondern auch, weil Aserbaidschan als dezidiert säkulare Ex-Sowjetrepublik den islamistischen Einfluss des Iran fürchtet. Die Aserbaidschaner sind überwiegend Schiiten, und vom Iran geförderte schiitische Terrorgruppen wie die libanesische Hisbollah versuchen im Land Fuß zu fassen. Aber auch weniger militante Formen des Islamismus stellen potenziell das System in Aserbaidschan infrage und damit auch die Macht der Familie Alijew, die das Land seit seiner Unabhängigkeit autoritär regiert.

Die Wahlen in Aserbaidschan gelten als gesteuert. Auf dem Index für Meinungs- und Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen rangiert das Land auf Platz 168 von 180 Staaten. Vor diesem düsteren Hintergrund ist das vergleichsweise hohe Maß an ethnischer Pluralität ein Pluspunkt, den man gerne betont in Aserbaidschan. „Präsident Alijew hat ethnische Diskriminierung ausdrücklich verboten“, sagt etwa die russischstämmige Ija Schaschlowa, die bei der staatlichen Werbeaufsicht arbeitet, aber als unabhängige Kandidatin bei der letzten Parlamentswahl antrat.

Natürlich sei Russland ein traditioneller Verbündeter Armeniens, also des Erzfeinds im Karabach-Konflikt. „Aber trotzdem sind wir Russen in Aserbaidschan voll integriert. Weil es wirklich eine sehr tolerante Gesellschaft ist.“ Selbst Armenier könnten hier gut leben.

Diese Behauptung hört man oft, gerade von offizieller aserbaidschanischer Seite. Bei näherem Hinsehen kommen Zweifel daran auf. Zwar gibt es noch eine armenische Kirche im Zentrum von Baku, doch sie dient mittlerweile als Bibliothek. Fragt man dort nach, warum hier keine armenisch-orthodoxen Gottesdienste stattfinden, dann erhält man die süffisante Gegenfrage, wer denn solche Gottesdienste besuchen sollte. Und wenn es einem gelingt, armenisch stämmige Bürger zum Interview zu bewegen, dann erzählen sie von Diskriminierungen im Alltag, die durchaus Biografien prägen. Manche nehmen sogar russische Namen an, um nicht als Armenier erkannt zu werden.

Aber für die Staatsführung, so autoritär sie auch sein mag, wäre Toleranz durchaus ein sinnvolles Konzept, weil sie dem in dieser Weltgegend nötigen Pragmatismus entspricht. „Im letzten Krieg hat Russland Armenien nicht mehr so stark unterstützt“, erinnert die Politikerin Schaschlowa. „Heute ist Russland genauso ein Partner für Aserbaidschan wie die Türkei. Oder Israel.“

Nach dem Rundgang durch die Schule ist Rabbiner Isayev wieder im Sekretariat angekommen. Wegen der Pandemie sind keine Schüler im Haus. Der Unterricht findet online statt. Das Büro des Rabbiners ist nach russischer Weise eingerichtet: ein Schreibtisch für den Chef, T-förmig quer davor ein Tisch für Gäste, in einigem Abstand daneben ein Tisch für die Sekretärin. Die ältere Dame mit der jüdischen Frauenmütze tippt unbewegt weiter auf ihrem Laptop, während der Rabbiner erzählt.

„Außer in Israel geht es Juden nirgends so gut wie bei uns“

Er rede nicht gerne über Politik, sagt er, schließlich sei er ein Mann des Glaubens. Aber dass die Toleranz in Aserbaidschan nicht nur Kalkül sei, das könne er bestätigen. „Das war hier schon immer so“, sagt Isayev. „Im 19. Jahrhundert verboten die Zaren den Juden, in Städten zu leben. Sie verbannten sie aufs Land. In Baku haben sie sich nie daran gehalten. Hier konnten immer Juden leben, egal, was der Zar gesagt hat.“

So seien viele Juden aus anderen Teilen des russischen Reiches hergekommen. „Ich habe auch viel im Ausland gelebt. Und ich muss sagen: Außer in Israel geht es den Juden nirgends so gut wie bei uns in Aserbaidschan.“ Und in den USA? Ach was, sagt der Rabbiner. Dort gebe es doch immer wieder Angriffe auf Synagogen. „Hier wäre so was undenkbar.“ Hier müsse kein jüdisches Bethaus bewacht werden. Und alle Bürger seien zum Gottesdienst eingeladen, gleich welchen Glaubens sie seien.

Quelle: welt.de


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