ntv.de: Nach der Bund-Länder-Konferenz zeigen sich Wirtschaftsverbände enttäuscht über zu wenig Lockerungen. Andere Stimmen warnen davor, dass Deutschland mitten hinein in die dritte Welle öffnet. Wie entspannt blicken Sie auf die kommenden Wochen?
Norbert Walter-Borjans: Zur Entspannung besteht kein Anlass. Einerseits gibt es die erhöhte Ansteckungsgefahr durch die Corona-Mutante, andererseits das leise Sterben ganzer Branchen und die gravierenden Folgen für die Bildung, gerade für Kinder aus sozial schwächeren Familien. Die getroffenen Verabredungen sind da ein Licht am Ende des Tunnels. Sie zeigen auf, wie man systematisch öffnen kann, ohne die Anforderungen an den Gesundheitsschutz aufzugeben.
Aber was war ausschlaggebend für die Lockerungen zum jetzigen Zeitpunkt? Eine günstige Pandemie-Lage oder der gesellschaftliche Druck?
Die Wirksamkeit von Regelungen und Gesetzen setzt voraus, dass die Bevölkerung sie mitträgt. Entscheidend waren aber zum einen die Impferfolge bei den über Achtzigjährigen, die die Sterberate in dieser besonders gefährdeten Gruppe enorm gesenkt haben, und zum anderen die Möglichkeit, in viel größerem Umfang zu testen. Damit können wir eine neue Balance zwischen Gesundheitsschutz und lange ersehnten Lockerungen herstellen.
Die kostenlosen Schnelltest-Angebote stehen aber nicht ab Montag überall zur Verfügung. Und an der Logistik hinter der Verteilung der Selbsttests soll nun eine Taskforce von Jens Spahn und Andreas Scheuer arbeiten. Die Voraussetzungen zum Öffnen sind also noch in der Vorbereitung. Man fragt sich, was tut die Bundesregierung eigentlich, wenn nicht gerade Bund-Länder-Konferenz ist?
Es ist ja nicht verabredet worden, dass morgen alles öffnet, sondern ein schrittweises Vorgehen. Wenn die verantwortlichen Ministerien jetzt ihren Job machen, kann das gelingen. Oder besser: Es muss gelingen. Mit einer stringenten Organisation ist dieses Ziel zu schaffen.
Aber der Bundesgesundheitsminister hatte da ganz andere Erwartungen geweckt. Ist Jens Spahn seiner Schlüsselrolle in dieser historischen Situation gewachsen?
Ich habe nichts gegen große Auftritte. Aber wer große Ankündigungen macht, muss auch liefern. Dem Bundesgesundheitsminister ist das aber weder beim Impfen noch bei der Corona-Warn-App gut gelungen. Da klaffte immer wieder eine erkennbar große Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit - mit der entsprechend großen Enttäuschung bei den Bürgerinnen und Bürgern. Beim Testen muss das jetzt funktionieren. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass jeder aus Fehlern der Vergangenheit lernt. Das ist jetzt dringend nötig.
Die Kritik an Gesundheitsminister Spahn bettet sich ein in vermehrte Kritik der SPD am Koalitionspartner. Wie ist Ihre persönliche Beziehung zur Union und wie ist Ihre Perspektive auf das Wirken der Großen Koalition?
Eine Koalition - und erst recht eine große Koalition - ist keine Liebesheirat. Das ist ein Zweckbündnis, das bei der bisherigen Bewältigung der Pandemie gute Ergebnisse erzielt hat. Aber wenn es um die Sache geht, muss man auch offen über Defizite reden können. In den Bereichen Gesundheitsschutz und Hilfen für die Wirtschaft ist das der Fall. Wahr ist aber auch: Wir gehen anständig miteinander um, sei es in der Regierung, im Koalitionsausschuss oder bei Kontakten zu einzelnen Politikern des Koalitionspartners.
Sind sie stolz auf die Rolle der SPD in der Regierung während der vergangenen drei Jahre?
Ja, absolut. Man muss sich nur angucken, was auch vom Koalitionspartner und der Kanzlerin als gemeinsamer Erfolg dargestellt wird: die Grundrente, das Corona-Konjunkturpaket inklusive des Akzentwechsels in Richtung Elektromobilität, das EU-Hilfspaket, die Kurzarbeiterregelungen, die finanzielle Unterstützung der Gemeinden. Wir wissen zu gut, wie hart die SPD dafür innerhalb der Koalition ringen musste. Auch wenn mir das Wort sonst ein bisschen fremd ist: Die SPD darf auf das Erreichte durchaus stolz sein.
Zentrale Pfeiler des am Montag vorgestellten Bundestagswahlprogramm sind ein Bürgergeld anstelle von Hartz IV und die Einführung einer Kindergrundsicherung. Was ist die zentrale Botschaft? Die SPD beendet endlich ihr Hartz-Trauma und bricht mit der Agenda 2010? Oder: Seht her, die SPD hat ein modernes, schlankes Sozialstaatskonzept?
Die SPD hat ein Zukunftsprogramm für unser Land vorgestellt. Darin spielt das Sozialstaatskonzept eine gewichtige Rolle. Damit zeigen wir, dass wir aus Hartz IV gelernt und die Größe haben zu sagen: "Wir wissen heute, dass Hartz IV Nebenwirkungen hat, die nicht hinnehmbar sind. Es gibt Korrekturbedarf und dem werden wir nachkommen." Eine stabile Gesellschaft setzt voraus, dass wir den Zusammenhalt wahren und dass niemand zurückbleibt. Und mit der Kindergrundsicherung stellen wir eine große Ungerechtigkeit ab. Künftig soll Schluss sein damit, dass Kinder von Eltern mit hohem Einkommen steuerlich mehr wert sind als Kinder ärmerer Eltern.
Wäre Ihr Programm glaubwürdiger, wenn sich Ihr Spitzenkandidat Olaf Scholz für seinen persönlichen Anteil an der Agenda 2010 entschuldigen würde?
Nein. Alle, die damals daran mitgewirkt haben, haben in bester Absicht gehandelt. Die Erfahrungen bei der Umsetzung und neue gesellschaftliche Entwicklungen haben uns gezeigt, wo und was wir an der sozialen Sicherung ändern müssen. Olaf Scholz steht wie wir alle voll und ganz zu diesem neuen, gemeinsamen Ansatz.
Viele SPD-Vorhaben - die stärkere Belastung höherer Einkommen, eine Vermögenssteuer, ein höherer Mindestlohn - zielen auf eine bessere soziale Absicherung der unteren Einkommensschichten. Gewinnt die SPD mit Umverteilungsprogrammen Wähler der Mitte zurück?
Unser Zukunftsprogramm wird für 95 bis 97 Prozent der Gesellschaft zu einer Senkung der Abgaben führen. Bis weit über die Mitte hinaus werden die Steuerzahler also bessergestellt. Im Gegenzug müssen die 3 bis 5 Prozent stärksten Schultern ein Stück mehr beitragen. Das sind die sehr Wohlhabenden, deren Einkommens- und Vermögensentwicklung sich in den letzten Jahren von der Allgemeinheit entkoppelt hat. Die Vermögensteuer betrifft sogar nur ein Prozent der Bevölkerung. Das alles hält die Lobbyisten der Top-Verdienenden nicht davon ab, uns allen weiszumachen, dass die SPD die Steuern erhöhen wolle. Dieser Vorwurf ist nicht nur großer Unsinn - er bringt diejenigen gegen eine Reform auf, die davon einen spürbaren Vorteil hätten.
Sie wollen auch das Ehegattensplitting aufheben. Doch gerade bei nicht-akademischen Berufen verdienen Frauen oft weniger als Männer, arbeiten in Teilzeit und finden es in der Folge attraktiv, einen größeren Anteil der Familienarbeit zu übernehmen. Warum greifen Sie in diese Lebensentwürfe ein?
Schon unser Konzept von 2017 sah vor, dass Ehepartner mit einem Einkommensunterschied von bis zu 40.000 Euro im Jahr keinen Cent verlieren würden. Das sind die allermeisten Haushalte. Mit Kindern würden sie sogar deutlich besser da stehen. Die neuen Regeln sollen zudem nur für neu geschlossene Ehen angewendet werden, für bestehende Ehen gäbe es ein Wahlrecht. Es fällt nicht schwer vorauszusagen, dass sich die Allermeisten für das neue Recht entscheiden würden - erst recht mit Kindern. Mit dieser Änderung kämen übrigens endlich auch die Millionen von Kindern in solchen Haushalten in den Genuss der Förderung, die heute gar nichts vom Ehegattensplitting haben - Kinder von Alleinerziehenden und in Familien, in denen beide Partner ähnlich viel verdienen. Das Ehegattensplitting ist also völlig aus der Zeit gefallen und geht schon seit Jahrzehnten weitestgehend am Ziel vorbei, Haushalte mit Kindern zu unterstützen.
Die Pandemie-Maßnahmen führen zu einem beschleunigten Sterben des Einzelhandels in den Innenstädten. Die SPD will mit einem Mietpreisspiegel und Mietpreisbegrenzungen für Gewerbeimmobilien gegensteuern und den kommunalen Handlungsspielraum erweitern. Reicht das, um leere Innenstädte zu verhindern?
In vielen Städten sind Mieten inzwischen kaum noch bezahlbar. Trotzdem unterscheiden sich die Verhältnisse von Stadt zu Stadt. Deshalb gibt es kein Patentrezept. Stattdessen brauchen wir eine Mischung aus intelligenter Mietpreisbegrenzung und Ordnungsrecht, das festlegt, welche Nutzung zulässig ist. Wir müssen alles tun, um zu vermeiden, dass Ladenlokale von traditionellen Einzelhändlern aufgegeben werden müssen und dann in die Hände von überall gleich aussehenden Filialisten fallen. Zugleich muss der innerstädtische Einzelhandel hybrider werden und die Chancen der Digitalisierung mit Präsenz vor Ort kombinieren, um gegen die Onlineriesen bestehen zu können.
Die SPD will im Herbst auch mit dem Themenschwerpunkt Klimaschutz überzeugen. Eine Schlüsselrolle bei der Transformation des Industriestandorts Deutschland schreiben Sie dem Wasserstoff zu. Wo unterscheidet sich dieser Ansatz von dem der Union oder der Grünen?
Für die Nutzung von CO2-neutralem Wasserstoff brauchen wir viel mehr in Deutschland gewonnene erneuerbare Energie. CDU und CSU bremsen die Windkraft aktiv aus, indem sie den Ausbau von Windkraftanlagen an Land erschweren und den Bau von Stromtrassen für Windkraftanlagen im Meer verhindern. Die Folge wäre, dass im Ausland produzierter Wasserstoff importiert werden müsste. Dazu fehlen derzeit nicht nur die technischen Voraussetzungen, wir würden auch neue Abhängigkeiten schaffen.
Und die Grünen?
Im Unterschied zu den Grünen haben wir einen Plan, der wirtschaftliche und soziale Brüche ausschließt. Soziale Verwerfungen würden am Ende zu gar keiner Verbesserung führen. Der schnellstmögliche Umstieg wird eine Zeit lang Gas benötigen. Auch, um daraus Wasserstoff zu gewinnen. Wenn wir den Kohleausstieg möglichst sogar beschleunigen und auf Atomkraft verzichten wollen, ist das zwingend. Deshalb wollen wir auch die letzten 100 der 1100 Kilometer langen NorthStream-2-Pipeline fertig bauen. Das darf uns nicht davon abhalten, auch den Ausstieg aus der Gasverbrennung konsequent zu betreiben. Auf diesem Weg machen uns die letzten 100 Kilometer Pipeline aber nicht abhängiger, sondern unabhängiger und flexibler.
Mit Norbert Walter-Borjans sprach Sebastian Huld.
Quelle: ntv.de
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