"Corona ist nichts gegen das, was noch wartet", hat Josef Settele im vergangenen Dezember in einem Gastbeitrag auf ntv.de geschrieben. "Die nächste Pandemie wird kommen", sagt der Biologe und Naturschutzforscher des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung voraus. "Hat die Menschheit Pech, wird sie weitaus tödlicher als die Corona-Welle sein."
Denn Klimawandel, Artensterben und tödliche Krankheiten befeuern sich wechselseitig, wie er in seinem Buch "Die Triple-Krise" schreibt. Wir holzen Wälder ab und entfernen dadurch die natürliche Barriere zu Tieren, die gefährliche Viren in sich tragen. Aber wieso steigt die Gefahr von Pandemien, wenn Arten aussterben? Wenn Millionen Tiere von der Erdoberfläche verschwinden, müssten die Gefahren dann - zynisch betrachtet - nicht weniger werden?
Jein, sagt der Biologe. "Ja, es bleiben weniger Arten übrig, aber die Idee dieser Annahme ist, dass wir diejenigen loswerden, die wir nicht haben wollen. Meistens ist das Gegenteil der Fall. Wir sind nicht besonders erfolgreich darin, bestimmte Arten auszurotten. Wir löschen immer die aus, um die es gar nicht geht und verstärken das Problem."
Insekten sind systemrelevant
Der Mensch ist der Architekt seines eigenen Untergangs. Das Horrorszenario, das Josef Settele in seinem Buch beschreibt, sieht so aus: Schon in knapp 20 Jahren sind viele Wälder für Besucher gesperrt, weil Äste von toten Bäumen herunterfallen und sich darin Tiere aufhalten, die gefährliche Viren in sich tragen. Und die wenigen Wälder, die man noch betreten darf, sind verstörend still, denn Vögel hört man nicht mehr. Sie haben den Wald auf der Suche nach Futter verlassen, wenn sie nicht schon ausgestorben sind. Dafür stinkt es neuerdings erschreckend unangenehm, weil der Wald zu einem Sammelbecken für Kot und verendete Kadaver geworden ist.
Die Ursache ist in allen Fällen gleich. Für etwa eine Million Tier- und Pflanzenarten könnte in den nächsten zwei bis fünf Jahrzehnten das Aus kommen. Fast die Hälfte davon sind Insekten, denen zu Unrecht durch Mücken und Fliegen ein notorisch schlechtes Image anhaftet. Denn sie bestäuben nicht nur Pflanzen, sondern vernichten auch Kot und Kadaver und dienen den Vögeln als Futter. Leider sind sie nicht so süß wie Pandabären, deshalb werden sie "gravierend unterschätzt in ihrer Wichtigkeit", wie es Insektenforscher Settele formuliert. Sie sind das tierische Äquivalent der systemrelevanten Arbeitskräfte.
"Etwa die Hälfte der Arten geht verloren"
Insekten sind die artenreichste Tierklasse. Weltweit sind eine Million Arten bekannt, in Deutschland leben etwa 30.000. Nicht nur Mücken und Fliegen, sondern auch Ameisen, Bienen, Heuschrecken, Käfer, Schaben, Schmetterlinge, Schnecken und Wespen. Aber gerade die Bestände der Fluginsekten gehen zurück, auch wenn niemand in absoluten Zahlen sagen kann, wie viele betroffen sind. Dafür gibt es viel zu viele.
"Durchschnittsbürger erkennen, ob ein Schmetterling bläulich ist, aber nicht, ob er zu dieser oder jener der 50 bläulichen Falter-Arten gehört", umschreibt der Insektenforscher das Problem. "Von den Wildbienen gibt es 300 bis 400 unterschiedliche Arten in Deutschland. Von denen stehen 40 bis 50 Prozent auf der Roten Liste und kommen dem Aussterben näher. Ähnlich ist es bei Schmetterlingen. Bei vielen Gruppen geht etwa die Hälfte der Arten verloren."
Dass Insekten aussterben, weiß man vor allem aus jahrelangen Beobachtungen. Über die Jahre ist durch die mühevolle Arbeit freiwilliger Insektenfreunde aufgefallen, dass es bestimmte Arten heute nicht mehr gibt, die vor fünf Jahrzehnten noch in heimischen Wäldern und Wiesen anzutreffen waren. Bahnbrechend war die Veröffentlichung der "Krefelder Studie" vor vier Jahren. Darin hat der Entomologische Verein Krefeld über einen Zeitraum von 27 Jahren hinweg die Zahl der Fluginsekten in seiner Region erfasst. Die Entwicklung ist niederschmetternd: Von 1989 bis 2016 konnte ein Rückgang von 76 Prozent der Biomasse nachgewiesen werden. Welche Arten betroffen waren, wurde nicht untersucht.
Super-GAU in China
Die Studie ist nicht frei von Kritik. Gerade ein Industriestandort wie Nordrhein-Westfalen ist keine Modellregion für Tier- und Artenschutz. An manchen Stellen hat der Krefelder Verein über einen Zeitraum von fast drei Jahrzehnten außerdem nur ein oder zweimal Insektenfallen aufgestellt, um nachzuzählen. Aber so ungenau die Zahlen auch sind, es sind die besten, die wir haben, der Trend lässt sich nicht leugnen. Und das ist gerade bei Fluginsekten fatal. Unsere natürlichen Landwirte sammeln Pollen und Nektar ein, bestäuben damit weltweit fast 90 Prozent aller Blütenpflanzen, darunter drei Viertel aller wichtigen Nutzpflanzen.
"Fluginsekten sind indirekt für rund ein Drittel der weltweiten Nahrungsmittelproduktion verantwortlich", sagt Josef Settele. "Auch an der Herstellung von Fasern, Medikamenten, Biokraftstoffen und Baumaterialien haben sie großen Anteil." Oder auch nicht, wie ein Beispiel aus der Sichuan-Provinz zeigt, dem größten Obstanbaugebiet Chinas.
"In gewissen Tälern gibt es keine Bestäuber mehr", erzählt der Biologe. "Dort ist seitdem der Mensch gefragt: Wenn wir Obst anbauen wollen, müssen wir eben von Hand rangehen, um den Verlust der Insekten auszugleichen. Aber der Mensch ist kein Experte auf dem Gebiet, er ist ein Stümper."
"Der Mensch ist ein Stümper"
In China war eine unbedachte Anweisung des Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung für das Insektensterben verantwortlich. Mao hatte es 1958 eigentlich auf den allgegenwärtigen Spatzen abgesehen, weil der sich an der Getreideernte bediente. Wenige Jahre später war der kleine Vogel erfolgreich ausgerottet, mit ihm aber auch der natürliche Fressfeind gefräßiger Insekten, die sich an seiner statt über die Ernte hermachten. Es kam zum flächendeckenden Einsatz von Insektiziden, der die Bienen in die Flucht trieb. Eine fatale Entscheidung hat den Anbau im größten Obstanbaugebiet Chinas nahezu unmöglich gemacht.
Ein kostspieliger Fehler. Aber schiefgehen kann es selbst dann, wenn man versucht, es richtigzumachen. Wie in Neuseeland, einem weltweiten Naturschutz-Vorbild, in dem trotz aller Bemühungen derzeit 4000 heimische Arten bedroht sind. Der Grund ist der Mensch, seine urbane Ausbreitung, sein Hang zum Roden und vor allem seine monotone, industrielle Landwirtschaft.
In Neuseeland floriert vor allem die Milchwirtschaft. Seit 1994 hat sich die Zahl der Milchkühe auf beinahe sieben Millionen verdoppelt. Das Geschäft boomt, mehr als 130 Länder beziehen ihre Milch aus der Fünf-Millionen-Einwohner-Nation. 95 Prozent der Erzeugnisse gehen ins Ausland und kurbeln die heimische Wirtschaft an. Klima, Boden und Wasser sind perfekt dafür geeignet, schreibt der Verband der neuseeländischen Milchindustrie auf seiner Webseite. Wie lange wohl noch?
Mehr Kühe, mehr Geld, mehr Umweltschäden
Kühe produzieren Unmengen an Gülle, Dung und Methan. Ihr Haltungsmonopol macht den Boden unfruchtbar. Damit auf neuseeländischen Wiesen überhaupt noch irgendetwas zum Verzehren und Ernähren der Milchmaschinen wächst, setzen die Bauern großflächig synthetischen Dünger ein und vergiften so peu à peu ihre einst fruchtbaren Böden, zerstören erst die Pflanzen und dann die Tierwelt. Schritt für Schritt weicht die wundervolle neuseeländische Natur und mit ihr weichen die Insekten. Der Mensch betreibt "ökologischen Wahnsinn", wie es Josef Settele nennt, und nimmt sich damit seine eigene Lebensgrundlage.
Es gibt leichtere Fragen als die, wie man diese Entwicklung stoppen kann. "Am Ende des Tages muss das rentable Rind weniger rentabel werden", konstatiert der Biologe. "Das heißt, die Folgekosten, die der Staat normalerweise trägt, müssen sich im Produkt wiederfinden, damit die Allgemeinheit nicht darauf sitzen bleibt."
Aber trotz aller Horror-Szenarien hat Josef Settele den Eindruck, dass es in die richtige Richtung geht. Sein eigenes Szenario, das er für das Jahr 2040 entworfen hat, hält er selbst für unwahrscheinlich. Eine drei auf einer Skala von eins bis zehn würde er der Menschheit aktuell verteilen. Das macht Hoffnung, heißt aber: Es ist noch Luft nach oben.
Quelle: ntv.de
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