Zum ersten Mal heulen in der israelischen Küstenmetropole Tel Aviv am helllichten Tage die Raketen-Warnsirenen. Aufgeschreckte Menschen in einem großen Bürogebäude im Stadtzentrum rennen eilig in einen Schutzbunker unter der Erde. Es sind dumpfe Explosionen zu hören. "Wir müssen hier bleiben, auch Raketensplitter können töten", ruft eine sichtbar verängstigte Frau, als einige nach wenigen Minuten schon wieder zurück nach oben zur Arbeit gehen wollen. Denn erst am Vorabend war in der Stadt Sderot ein Fünfjähriger auf diese Weise ums Leben gekommen.
Insgesamt sieben Menschen in Israel wurden nach Armeeangaben bisher durch Beschuss getötet. Es ist das fünfte Mal, dass militante Palästinenser im Gazastreifen Raketen auf die rund 70 Kilometer entfernte Küstenmetropole feuern. Der Großraum Tel Aviv ist das am dichtesten besiedelte Gebiet des Mittelmeerstaates. Das häufige Aufschrecken durch Sirenen in der Nacht macht viele Israelis mürbe.
Seit Montagabend wurden nach Armee-Angaben mehr als 1750 Raketen auf Israel abgefeuert. Der militärische Flügel der im Gazastreifen herrschenden Hamas zeigte sich bereit, den Konflikt fortzusetzen. Ein Sprecher der Al-Kassam-Brigaden erklärte: "Die Entscheidung, Tel Aviv, Jerusalem, Aschkelon, Aschdod und Beerscheva zu beschießen, fällt uns leichter, als einen Schluck Wasser zu trinken." Auch aus dem Libanon wurden nach Militärangaben drei Raketen auf Israel abgefeuert. Sie seien aber vor der Küste im Norden des Landes ins Mittelmeer gefallen, teilte die israelische Armee am Abend mit.
Laga im Gazastreifen "so schlimm wie nie zuvor"
Auch im Gazastreifen hinterlassen die Bombardements der israelischen Luftwaffe tiefe Spuren. Das Militär setzte seine massiven Angriffe auf das Küstengebiet fort. Fast 1000 Ziele beschoss das Militär dort nach Angaben von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Auch drei Hochhäuser wurden zerstört. Im Gazastreifen starben seit der Eskalation der Gewalt nach Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums mehr als 100 Menschen, darunter 27 Kinder und 11 Frauen. Rund 580 Menschen seien verletzt worden.
Die 40-jährige Palästinenserin Dua al-Lou beschreibt die Lage in Gaza als "tragisch und extrem unheimlich". Die ohnehin harten Lebensumstände in dem Küstenstreifen seien wegen der jüngsten Eskalation "so schlimm wie nie zuvor". Die Hausfrau sagt: "Heute ist der erste Tag von Eid al-Fitr zum Abschluss des Fastenmonats Ramadan. Die ganze Welt feiert, aber wir hier in Gaza können weder feiern noch auf die Straße gehen." Ihr Mann ist Händler, wie viele habe er große finanzielle Einbußen, weil das Fest ins Wasser gefallen ist.
Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern war zuletzt wieder aufgeflammt. Er spitzte sich im Ramadan und nach der Absage der palästinensischen Parlamentswahl immer weiter zu. Als Auslöser gelten etwa Polizei-Absperrungen in der Jerusalemer Altstadt, die viele junge Palästinenser als Demütigung empfanden. Hinzu kamen drohende Zwangsräumungen von Familien und daraus resultierende Auseinandersetzungen von Palästinensern und israelischen Siedlern im Jerusalemer Viertel Scheich Dscharrah sowie heftige Zusammenstöße auf dem Tempelberg (Al-Haram al-Scharif). Die Anlage mit Felsendom und Al-Aksa-Moschee ist die drittheiligste Stätte im Islam. Sie ist aber auch Juden heilig, weil dort früher zwei jüdische Tempel standen.
Mehr abgefeuerte Raketen als im Gaza-Krieg 2014
Der Konflikt greift zunehmend auch auf Orte im israelischen Kernland über - mit Gewalttaten von Arabern gegen Juden und umgekehrt. Der 29-jährige Baschir al-Saitunia aus der Stadt Gaza sieht Israels Vorgehen in Ost-Jerusalem als Auslöser der Eskalation. "Glauben Israel und die Welt, dass die Palästinenser, vor allem die militanten Gruppierungen, dem schweigend zusehen können? Natürlich nicht." Er wirft der internationalen Gemeinschaft sowie der islamischen Welt vor, nichts zu unternehmen. "Als die Palästinenser verstanden haben, dass sie allen egal sind, haben sie angefangen, sich selbst zu verteidigen", meint er. Die Situation in Gaza sei "entsetzlich". Wegen der ständigen Angriffe könne niemand auf die Straße gehen.
Die islamistische Hamas hat sich zum Verteidiger Jerusalems erklärt. Von Israel verlangte sie zu Wochenbeginn per Ultimatum unter anderem, dass alle israelischen Polizisten und Siedler den Tempelberg und Scheich Dscharrah verlassen - Israel folgte dem nicht. Die Hamas hat ihren Raketenbeschuss unter das Motto "Schwert von Jerusalem" gestellt. Israel nennt seinen Einsatz "Wächter der Mauern". Seit Ende 2008 haben Israel und die Hamas sich drei Kriege geliefert. Auffällig an diesem neuen Konflikt ist, wie schnell er massiv eskalierte.
Die Zahl der auf Israel abgefeuerten Raketen ist nach den ersten drei Tagen dieser Auseinandersetzung viel höher als im Vergleichszeitraum des Gaza-Kriegs 2014. Und Israel beginnt eher mit der Zerstörung von Hochhäusern. In dem Gaza-Krieg kam es erst am Ende des zweimonatigen Konflikts zu derart intensiven Angriffen.
"Nichts rechtfertigt das Lynchen"
Wann ist damit zu rechnen, dass sich die gefährliche Situation beruhigt? Hinter den Kulissen gibt es offenbar intensive Bemühungen von Unterhändlern Ägyptens, Katars und der Vereinten Nationen um eine Waffenruhe. Experten gehen aber davon aus, dass die Gewalt zumindest noch mehrere Tage andauern könnte. Dafür spricht auch, dass Israels Sicherheitskabinett in der Nacht zum Donnerstag eine Ausweitung des Militäreinsatzes beschlossen hat.
Dabei werden gezielt "Symbole der Hamas-Herrschaft" im Gazastreifen angegriffen. Andererseits sorgen die inzwischen allabendlichen Unruhen in Orten im israelischen Kernland, in denen Juden und Araber bislang weitgehend friedlich zusammenlebten, für größte Besorgnis. Der momentane Konflikt findet dort eine Fortsetzung. Araber jagen Juden, stecken Synagogen an. Juden verprügeln Araber, zerstören Geschäfte von Palästinensern. "Nichts rechtfertigt das Lynchen von Juden durch Araber, und nichts rechtfertigt das Lynchen von Arabern durch Juden", versuchte Ministerpräsident Netanjahu in der Nacht zu beschwichtigen.
Viele befürchten jedoch, dass sich der bereits entstandene Riss noch tiefer in die ohnehin schon gespaltene und diverse Gesellschaft frisst, sollte nicht bald wieder Ruhe einkehren. Dieser Konflikt "ist nicht weniger gefährlich als die Raketen der Hamas", warnte Verteidigungsminister Benny Gantz.
Quelle: ntv.de, Sebastian Engel, Sara Lemel und Saud Abu Ramadan, dpa
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