Als Joschka Fischer 1998 Bundesaußenminister wurde, war Annalena Baerbock noch keine 18 Jahre alt. Knapp 23 Jahre später hat gute Chancen, die nächste deutsche Bundeskanzlerin zu werden, und die Grünen damit die historische Gelegenheit, ins Kanzleramt einzuziehen.
Am Rande eines Doppelinterviews mit dem israelischen Botschafter bot sich die Gelegenheit, Fischer, der seine Partei geprägt hat wie kaum ein zweiter, ein paar Fragen dazu zu stellen. Hätte er es je für möglich gehalten, dass die Grünen eine Chance aufs Kanzleramt haben? Bei der Antwort auf diese Frage gerät Fischer ein bisschen ins Schwelgen. Er erinnere sich gut an die Zeit, als die Grünen 1983 das erste Mal ins Parlament in Bonn einzogen. Der saure Regen und das Waldsterben waren damals die großen Themen und die Grünen brachten als erstes Statement einen toten Baum mit ins Parlament.
"Als wir dann am Bonner Bundeskanzleramt vorbeigelaufen sind, bevor wir beim Parlament ankamen, sagte ich zu einem Kollegen: Das wird für uns der nächste Halt sein. Ich konnte damals natürlich nicht erahnen, dass es 30 Jahre oder noch länger dauern würde." Fischer fügte über das Szenario einer Grünen im Kanzleramt hinzu: "Ich wäre äußerst glücklich, wenn das passieren sollte. Einerseits… Andererseits wäre das auch eine gewaltige Herausforderung."
Die Kanzlerkandidatin kommt wie Fischer aus dem Realo-Flügel der Partei. Über eine mögliche Bundeskanzlerin Annalena Baerbock sagt der einstige Ober-Realo: "Sie hat die Fähigkeiten."
Sollte Baerbock wirklich Kanzlerin werden, wäre dies ein "zukunftsorientiertes und extrem positives Signal für Veränderung", so Fischer, und würde zeigen, "dass unser Land bereit ist für eine neue Generation". Der ehemalige Vizekanzler fügt mit Blick auf Grünen-Chef Robert Habeck hinzu: "Wir waren aber auch in der sehr ungewöhnlichen Situation, dass wir zwei exzellente Kandidaten hatten."
"Dafür haben wir einen hohen Preis bezahlt"
Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Fischer nie zusammengearbeitet. Als sie CDU-Chefin wurde, war er Bundesaußenminister. Unvergessen bleibt die "Elefantenrunde" am Wahlabend der Bundestagswahl 2005, an der auch Fischer teilnahm. Angesichts des überraschend guten Abschneidens der SPD weigerte sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder an jenem Abend, seine Wahlniederlage anzuerkennen. Weder Schröder noch sein Vizekanzler Fischer hätten damals erahnen können, dass Merkel am Ende 16 Jahre Bundeskanzlerin sein würde.
Was denkt Fischer heute über Merkel? "Ich würde sagen, dass Angela Merkel den Deutschen ein Gefühl der Sicherheit gegeben hat, aber wir haben dafür einen hohen Preis bezahlt. Deutschland ist in vielen Belangen den Herausforderungen unserer Zeit nicht gewappnet - die Digitalisierung ist da ein Beispiel", kritisiert Fischer. Deutschland sei nicht auf "der Höhe der Zeit", wenn es darum gehe, die Rolle der größten Wirtschaft in der Europäischen Union einzunehmen.
Fischer über SPD und Linke
Dass die Grünen nach der Bundestagswahl im September eine Koalition mit SPD und Linken bilden könnten, hält Fischer für unrealistisch: "Ich glaube nicht, dass so eine Koalition wirklich eine ernsthafte Option ist." Zudem müsste die SPD "psychologisch" damit klarkommen, dass die Grünen womöglich der stärkere Partner wären. "Aber die Linken als dritte Partei? Ich sehe nicht, wie man mit denen eine Koalition formen kann. Die Linkspartei ist gespalten zwischen dem Westen und romantischen Träumen über Russland."
Man könne keine Regierung bilden und eine westlich geprägte Außenpolitik betreiben, wenn man "romantische Vorstellungen über Russland und Putin" habe, sagt Fischer in Richtung Linke und fügt hinzu: "Das ist unmöglich. Das gleiche gilt für deren Haltung zu Israel, das ist nicht verhandlungsfähig."
"Afghanistan wird zur humanitären Krise"
Der Außenminister a.D. wiederholt mit Blick auf die Verteidigungsausgaben Deutschlands und der Europäischen Union seine Forderung nach einem größeren Engagement der Bundesrepublik. Auch mit einem US-Präsidenten Joe Biden dürfe sich Deutschland nicht zurücklehnen. "Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn Donald Trump wiedergewählt worden wäre. Ich glaube, dass die NATO keine weiteren vier Jahre überlebt hätte", sagt er.
Die EU müsse mehr tun, um die "öffentliche Meinung" in den USA zu beeindrucken: "Wir müssen zeigen, dass die reichen Europäer gewillt sind, mehr Geld für ihre eigene Sicherheit auszugeben."
Hinsichtlich der Situation im Nahen Osten warnt Fischer vor den möglichen Folgen des Truppenabzugs der Amerikaner und der Bundeswehr aus Afghanistan: "Da steht uns eine große humanitäre Krise bevor. Über dieses Szenario müssen wir uns im Klaren sein, wenn wir Afghanistan verlassen."
Fischer über Israel
Beim Thema Israel lobt Fischer die Bundeskanzlerin: "Ich habe Angela Merkel nie gewählt und ich habe viel an ihr zu kritisieren. Aber wenn man sich die deutsch-israelische Beziehung anschaut und die verschiedenen Regierungen, die Merkel angeführt hat, dann haben alle diese Regierungen im Einklang mit den Prinzipien unserer Beziehungen gehandelt, seitdem diese von David Ben Gurion und Konrad Adenauer im Jahr 1965 aufgenommen wurden."
Trotzdem erwartet Fischer, dass Deutschland auch mit Blick auf Israel und die gemeinsamen Interessen der beiden Länder "aktiver" werde. Jede künftige deutsche Regierung müsse sich im Klaren darüber sein: "Die Verantwortung Deutschlands für unsere Geschichte ist eine immerwährende Verantwortung für jede ernsthafte Regierung. Es muss für jede Partei, die Deutschland regieren will, klar sein, dass diese Verpflichtung nicht verhandelbar ist."
Quelle: ntv.de
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