Die tragisch verhinderte Heldengeschichte

  19 Mai 2021    Gelesen: 905
  Die tragisch verhinderte Heldengeschichte

Marco Reus wird bei der Fußball-EM nicht zum Kader von Joachim Löw zählen. Diese "schwere Entscheidung" traf der Dortmunder gemeinsam mit dem Bundestrainer. Es ist das bittere Ende einer Beziehung, die einst eine überragende Perspektive hatte.

Was auch sonst? Wieder einmal ist es sein Körper, der dem Dortmunder Kapitän Marco Reus das Signal gibt, eine Pause zu machen. Wieder einmal ist es der Körper, der den 31-Jährigen vor einem großen Turnier mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ausbremst. Diesmal ist Reus indes nicht verletzt. Er ist ausgelaugt. Mental und körperlich. Die Spielzeit mit dem BVB war auf allen Ebenen anstrengend. Für Reus ganz besonders. Seine Saison wurde von Formschwächen begleitet und von Diskussionen, ob er ein Anführer ist. Wenn der BVB schwächelte, wurde er zum Protagonisten. Eine zermürbende Sache.

"Nach einer komplizierten, kräftezehrenden und am Ende 'Gott sei Dank' erfolgreichen Saison habe ich gemeinsam mit dem Bundestrainer beschlossen, nicht mit zur EM zu fahren", schrieb Reus bei Instagram. Die Entscheidung sei ihm "sehr schwergefallen, da ich immer voller Stolz bin, wenn ich für mein Land auflaufen darf. Aber nach einem sehr intensiven Jahr für mich persönlich und dem Erreichen der Ziele beim BVB bin ich zum Entschluss gekommen, meinem Körper Zeit zu geben, um sich zu erholen."

Dass seine Mannschaft in den vergangenen Wochen immer stärker geworden war, dass sie sich mit einem furiosen Liga-Finale noch in die Champions League rettete, das lag auch an einem verbesserten Reus. Wie gut der eigentlich ist und warum er seit Jahren der Mann ist, auf dessen konstante Einbindung in der Nationalmannschaft Joachim Löw vergeblich gewartet hat, das zeigte Reus zuletzt in den beiden Duellen gegen RB Leipzig. Im Liga-Duell war er schon ganz stark, erzielte ein phänomenales Tor mit prächtiger Vorbereitung. Im Pokal-Finale war er dann absolut überragend. Die ersten drei Tore leitete er mit ein. Mit perfekt getimten Pässen, mit starken Ballgewinnen. Auch die Körpersprache war die eines Chefs.

Reus wurde nur wenig vermisst

Der Bundestrainer, der in Berlin im Stadion war, dürfte sich mit großen Schmerzen gefragt haben, was in den vergangenen Jahren alles möglich gewesen wäre, wenn er einen Reus in dieser Form immer zur Verfügung gehabt hätte. Tatsächlich konnte er "nur" 44 Mal auf ihn zurückgreifen. Das ist nicht richtig wenig, aber auch alles andere als beeindruckend viel seit 2011, als er am 7. Oktober in der Türk Telekom Arena in der 90. Minute für seinen Kumpel Mario Götze eingewechselt wurde und beim 3:1-Erfolg der DFB-Elf über die türkische Auswahl debütierte. Reus war über all die Jahre ein gewaltiges Versprechen, eine große Sehnsucht des Bundestrainers. Eine unerfüllte.

In den "großen" Jahren des Teams zwischen 2010 und 2016 konnte die Nationalmannschaft mit ihren Hochbegabten in der Offensive die Abwesenheit von Reus kompensieren. Thomas Müller schlich sich erfolgreich durch des Gegners Abwehrreihen. Mesut Özil dirigierte das Spiel mit seinen herausragenden Pässen. Und ganz vorne traf Miroslav Klose. Keine Frage: Reus hätte auch in dieser Offensive seinen Platz gefunden. Aber sie funktionierte auch ohne ihn.

Anders wurde es spätestens bei der brutal vergeigten WM 2018 in Russland. Das Turnier wird in der Erfolgsgeschichte über den scheidenden Bundestrainer immer das große "Aber" bleiben. Ebenso wie die Zeit danach. Wie der zähe Umbruch. Wie die völlig überraschende Ausbootung von Jérôme Boateng, Mats Hummels und Müller. Die beiden letztgenannten kehren nun aller Voraussicht nach zur letzten Mission des Bundes-Jogi zurück.

Zu viele Tage ohne Fußball

Dass Reus bei dem WM-Desaster auch dabei war, ging im Abgesang auf die Ex-Weltmeister ohne jede Form, im Abgesang auf Müller, Hummels, Boateng, Sami Khedira und Özil unter. Vielleicht weil der Dortmunder beim Fiasko Mexicana erst spät eingewechselt wurde? Weil er gegen Schweden eines von zwei deutschen Turniertoren erzielt hatte? Oder weil er sich gegen Südkorea immerhin bemühte, aber wirkungslos gegen das totale Desaster stemmte? Nun, er hatte jedenfalls den Bonus. Reus sollte nun beim Neuaufbau endlich die Rolle des Hauptdarstellers im DFB-Team zukommen. Erst recht, als im Jahr 2019 alles noch schlimmer werden sollte. Denn auf die WM-Klatsche folgte ja auch noch der Abstieg aus der Nations League. Der schließlich nur durch eine Reform des Wettbewerbs abgewendet werden konnte.

Als sich die Nationalmannschaft im März 2019 traf, als sie unter dem Eindruck der Blitz-Ausbootung der drei Helden der Vergangenheit (siehe oben) zusammenkam, da war Reus ausgewählt, um eine prägende Gestalt der neuen Ära zu werden. Als er im Testspiel gegen Serbien in Wolfsburg zur zweiten Halbzeit eingewechselt wurde, da spielte die unsichere Mannschaft plötzlich mutig und zielstrebig. Reus initiierte einen Angriff nach dem anderen. Bereitete natürlich das deutsche Tor durch Leon Goretzka auch vor.

Auch wenn es am Ende nur ein wackeliges 1:1 gab, war Löw begeistert. Von Reus. "Marco hat uns leider wahnsinnig häufig gefehlt", sagte der Bundestrainer. "Wenn man seine Qualitäten und seine Klasse als Maßstab nimmt, hätten wir ihn in vielen Spielen gebrauchen können." Sechsmal spielte er fortan für Deutschland, fünfmal von Beginn an. Drei Tore erzielte er, zwei bereitete er vor. Das bislang letzte am 13. Oktober 2019 in der EM-Qualifikation in Estland.

Danach ging es für ihn bis Anfang April dieses Jahres so weiter: Muskuläre Probleme (sogar zweimal), Kapselverletzung, Probleme am Sprunggelenk, Muskelfaserriss, Muskelverletzung, Trainingsrückstand samt monatelangem Rätseln übers Comeback, Sehnenentzündung und Prellung am Fußgelenk. Macht laut seiner fürsorglich gepflegten Krankenakte beim Portal transfermarkt.de 251 Tage Abwesenheit vom Fußball. Dass er sich und seinem Körper nun ausgerechnet in diesem Sommer eine Auszeit geben will, geben muss, in diesem Sommer, der der letzte für den Bundes-Jogi ist, es ist die bittere Pointe einer Beziehung, die nie das wurde, was sie hätte werden sollen.

Quelle: ntv.de


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