Im Krieg verschollener Mann verhindert Erbe des Neffen

  28 März 2016    Gelesen: 832
Im Krieg verschollener Mann verhindert Erbe des Neffen
Seit 76 Jahren ist ein Mann verschollen, höchstwahrscheinlich im Krieg gefallen. Die Behörden glauben das nicht – und treiben damit einen Erben zur Verzweiflung. Geschichte einer juristischen Posse.
Manfred Roller* hat ein Haus geerbt. Schön ist es gelegen. Das 1000 Quadratmeter große Grundstück nistet in einer Siedlung, die sich in ein großes Waldstück im Berliner Stadtteil Tegel hineinschiebt. Dort lebte bis vor Kurzem seine Tante. Im Januar ist die 93-Jährige gestorben. In ihrem Testament hatte sie ihrem 74-jährigen Neffen alles vermacht. Laut einem notariell beglaubigten Dokument ist Manfred Roller als Alleinerbe eingesetzt. Doch das Erbe anzutreten gelingt ihm nicht. Wegen Onkel Walter, seinem Taufpaten.

Es ist die Geschichte eines behördlichen Wahnsinns. Und sie beginnt in den letzten Kriegstagen 1945. Der Ingenieur Walter Roller hat lange Glück gehabt; er musste nicht an die Front. Denn er arbeitet an einem hochgeheimen, für die Nationalsozialisten unglaublich wichtigen Waffenprojekt mit, der Rakete V2, in Peenemünde an der Ostsee. Im Oktober 1944 hat er seine Sekretärin Siglinde heiraten können, die große Liebe. Da Walter aber nicht zu den unabkömmlichen Wissenschaftlern gehört, erhält im Dezember schließlich auch er den Einberufungsbefehl zur Wehrmacht.

Erst im März, die Front hat nun fast die Reichshauptstadt Berlin erreicht, muss er ausrücken. Am 12. April schreibt er in einem vierseitigen Brief aus Wandlitz an seine Siglinde, dass es ihm gut gehe, lange habe er nicht mehr so gut gegessen – Schokolade. "Es ist das letzte Lebenszeichen von meinem Onkel", sagt Manfred Roller. "Danach verliert sich seine Spur."

Tatsächlich hat Walter Roller nie wieder etwas von sich hören lassen. Er wäre heute 102 Jahre alt. Niemand erinnert sich an ihn. Außer dem Gesetz. Schon im Beerdigungsinstitut wurde seinem Neffen Manfred klar, dass der Geist seines Onkels weiter umgeht. "Der Angestellte fragte mich, ob ich die Sterbeurkunde meines Onkels dabei hätte. Doch die gab es natürlich nicht."

Der Nachforschungsantrag blieb ohne Erfolg

Die Situation wiederholte sich beim Standesamt. "Als ich die Sterbeurkunde für meine Tante ausstellen lassen wollte, fragte man mich wieder nach demselben Dokument. Da war mir schon klar, dass das alles nicht so einfach werden würde mit der Erbschaft." Die Beamtin habe noch beteuert, nachvollziehen zu können, dass das etwas absurd klingen möge, gleichwohl müsse sie ohne Sterbedokument annehmen, dass der Mann noch lebe – "selbst wenn er heute 130 wäre".

Rollers Tante hatte versäumt, ihren Mann offiziell für tot erklären zu lassen. Vielleicht hatte sie es aber auch nicht übers Herz gebracht? So wurde auf der Sterbeurkunde der Tante unter Familienstand vermerkt: verheiratet. Siglinde Roller hätte das möglicherweise gefallen. War sie doch über Jahre hoffnungsvoll geblieben, dass ihr Walter wieder zurückkommen könnte, dass er in Gefangenschaft geraten sei. Schon 1946 stellte sie beim Roten Kreuz einen Nachforschungsantrag. Ohne Erfolg.

Anfang der 80er-Jahre beauftragte sie das Rote Kreuz abermals. Siglinde Roller stand nun kurz vor der Rente. Von einer Sekretärin hatte sie sich zur Einkaufsleiterin bei einem Berliner Industrieunternehmen hochgearbeitet. Sie hatte nie wieder geheiratet. In seinem Gutachten antwortete ihr das Rote Kreuz, dass man aufgrund des Schicksals seiner Einheit "mit größter Wahrscheinlichkeit" davon ausgehen "muss", dass ihr Mann umgekommen sei. "Wir empfehlen, dieses Gutachten aufzubewahren. Es kann eines Tages von wesentlicher Bedeutung für die Klärung personenstandsrechtlicher Fragen in ihrer Familie sein", schließt das Schreiben.

Doch dem Standesamt genügt dies nicht. Und auch nicht die Tatsache, dass die Tante ja über all die Jahrzehnte eine Witwenrente bezogen hat. Muss die am Ende etwa zurückgezahlt werden? In jedem Fall hat Walter Roller durch sein Jawort und die nur sieben Monate dauernde Ehe bis zum heutigen Tag Anspruch auf das Haus in Berlin-Tegel. Obwohl dieses erst 1968 gebaut wurde, also mehr als 20 Jahre nach seinem Verschwinden, und obwohl es auf den Namen Siglinde Roller eingetragen war.

Letzte Hoffnung auf Belege ist das Bundesarchiv

Damit nicht genug – die Behörden kalkulieren sogar mit eventuellen Nachkommen des Vermissten. Der könnte ja irgendwo irgendwann irgendwen wieder geheiratet und mit jener Frau Kinder bekommen haben. Ihnen stünde ein Pflichterbteil von zehn Prozent zu.

"Ich habe inzwischen zwei weitere Stellen mit Nachforschungen beauftragt", erzählt Manfred Roller. Gefunden haben sie – natürlich – nichts. Einzig im Bundesarchiv in Berlin tauchte eine Akte zu seinem Onkel auf. In der Abteilung "Deutsches Reich: Nationalsozialismus" wird ein Konvolut von 60 Seiten verwahrt. Was es enthält, weiß Roller noch nicht.

Der Grund, warum es überhaupt existiert, dürfte die Tätigkeit des Onkels für das Projekt V2 und seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS sein. Denn das Bundesarchiv sammelt nicht prinzipiell über jeden Bürger Material. Ob es Hinweise auf den Verbleib des Onkels nach dem April 1945 enthält, ist bisher nicht klar, aber unwahrscheinlich. "Ich müsste es in Berlin persönlich einsehen oder gegen eine Gebühr Kopien erstellen lassen."

Nun liegt der Fall beim Nachlassgericht in Berlin-Reinickendorf. Eine Antwort steht aus. Das Gericht muss also entscheiden, ob ein 102-Jähriger, von dem es seit 76 Jahren kein Lebenszeichen gibt, dessen gesamte militärische Einheit aus dem Krieg nicht heil zurückgekommen ist, dessen Frau jahrzehntelang Witwenrente bezogen hat, ein Haus erben kann, das er nie gesehen, geschweige denn finanziert hat.

Quelle : welt.de

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