Stephan Rosiny: Der Islamische Staat erlebt seit Monaten einen steten Niedergang. Im Sommer 2014 expandierte er noch mächtig und begründete damit auch sein Selbstverständnis, ein Islamischer Staat zu sein, der eines Tages die ganze Welt erobern werde. Die Expansion ist aber schon vor eineinhalb Jahren ins Stocken geraten. Die einzigen Ausnahmen waren die Eroberungen von Palmyra in Syrien und Ramadi im Irak im Mai 2015. Ramadi wurde Ende vergangenen Jahres zurückerobert, nun ist auch Palmyra gefallen.
Das nächste Ziel der syrischen Armee soll Rakka sein. Welche Bedeutung hat die Stadt für den IS?
Rakka war die erste selbst bezeichnete Hauptstadt des Islamischen Staates. Die Stadt ist von großer strategischer und symbolischer Bedeutung – genau wie Mossul, die IS-Hauptstadt im Irak.
Ist der IS besiegt, wenn er Rakka und Mossul verlieren sollte?
Der IS ist eine Bewegung, die schon zahlreiche Veränderungen erlebt hat. Er startete 2003 im Irak als Untergrundmiliz, die gegen die US-Besatzung und die schiitische Mehrheit der Bevölkerung kämpfte. 2006 wurde im Irak ein virtueller islamischer Staat ausgerufen, 2013/2014 ein großes Territorium erobert und ein Kalifat ausgerufen. Der Führer des IS hat für sich beansprucht, dass ihm alle Muslime weltweit gehorchen müssen. Wenn dem Kalifen nun das Territorium abhandenkommt und der IS als Staat zerfällt, dann verliert er seine Legitimität. Das wird aber nicht heißen, dass alle IS-Kämpfer friedlich nach Hause gehen und sagen: "Wir haben uns getäuscht und sind dem falschen Kalifen nachgelaufen." Ein Teil der Kämpfer wird in den Untergrund gehen, neue Kräfte sammeln und möglicherweise später einen erneuten Versuch unternehmen, einen "Islamischen Staat" zu errichten.
Wie könnte die nächste Phase aussehen?
Ich sehe schon in den vergangenen eineinhalb Jahren eine Veränderung der Strategie. Weil der IS sich territorial nicht mehr wesentlich ausdehnen konnte und sogar verschiedene territoriale Verluste hinnehmen musste, versucht er mittlerweile, sich virtuell auszubreiten. Er hat andere dschihadistische Milizen aufgenommen und angefangen, weltweit Terroranschläge zu verüben. Der IS versucht damit seine Kernideologie zu bestätigen, ein expansives islamisches Reich zu sein. Das ist eine Methode, um die eigenen Anhänger weiter zu mobilisieren. Der IS versucht Erfolgsstorys zu kreieren, nachdem er zuletzt so viele Niederlagen erlitten hat. Als solche war auch der Anschlag in Paris gedacht, der den eigenen Anhängern wieder Mut machen sollte. Der radikale Kern des IS versucht, durch eine Terrorkampagne das eigene Image eines erfolgreich expandierenden Kalifats aufrechtzuerhalten. Bei den Anschlägen in Brüssel handelt es sich hingegen wahrscheinlich eher um eine Kurzschlusshandlung. Die Attentäter hatten Angst verhaftet zu werden und haben den Anschlag kurzfristig vorverlegt.
Würden Sie die Anschläge in Paris und Brüssel aus der Sicht des IS als Erfolgsgeschichten bezeichnen?
Nein, aus Sicht des IS als Territorialstaat war das eher eine Verzweiflungstat. Der Anschlag in Paris war sogar kontraproduktiv, weil er noch mehr Gegenwehr erzeugt hat. Auch Frankreich hat sich daraufhin massiv dem Kampf gegen den IS angeschlossen, die UNO hat zum ersten Mal eine gemeinsame Resolution zu Syrien verabschiedet, und es kam zu einem partiellen Waffenstillstand in Syrien. Inzwischen ist international unumstritten, dass man den syrischen Bürgerkrieg politisch lösen muss, um dem IS die Expansionsmöglichkeit zu nehmen. Allein zur Mobilisierung der eigenen Anhänger hatte der Anschlag einen gewissen Effekt. Aus meiner Sicht verfolgt der IS zurzeit aber eher eine chaotische Rückzugsstrategie und kein überlegtes Programm mehr. Es ist der Versuch, sich durch Chaos und Terroranschläge selbst am Leben zu halten.
Der IS ist in Bedrängnis. Ist das gut für Europa oder schlecht?
Das Risiko von Anschlägen steigt, weil immer mehr Kämpfer merken, dass das Territorium des IS nicht zu halten ist. Die Option, als "Märtyrer" zu sterben, könnte einigen von ihnen als der einzige verbliebene Ausweg erscheinen. Deswegen sollte man versuchen, so viele Kämpfer wie möglich zur Aufgabe zu bewegen. Wir brauchen eine Exit-Strategie.
Wie könnte die aussehen?
Um ein Beispiel zu nennen: In Rakka und in der Türkei gibt es eine Gruppe, die sich "die Revolutionären von Rakka" nennt. Sie versucht, einzelne ausländische Kämpfer zur Desertion zu bewegen und hilft ihnen, von Syrien in die Türkei zu fliehen. Dort bleiben sie dann aber unversorgt, weil beispielsweise europäische Länder ihre eigenen Staatsbürger nicht zurück haben wollen. Eigentlich müssten sie die desertionswilligen Kämpfer aufnehmen und sie zwar bestrafen, aber ihnen auch eine neue Chance bieten, in ein normales Leben zurückzukehren. Die Alternative ist, dass sie in Syrien und im Irak bis zum Tod weiterkämpfen – oder sich als Selbstmordattentäter auf den Weg nach Europa machen.
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