Russen können sich Mobilmachung kaum entziehen

  18 Oktober 2022    Gelesen: 453
  Russen können sich Mobilmachung kaum entziehen

Die Teilmobilmachung in Russland sorgt für einen Exodus. Moskau versucht jeden verfügbaren Russen an die Front in der Ukraine zu schicken. Verweigern ist fast unmöglich. Wer nicht kämpfen will, dem drohen lange Haftstrafen.

Sie sollen den Ukraine-Krieg für Kremlchef Wladimir Putin drehen: 300.000 Russen will der russische Präsident zusätzlich an die Front schicken. Inoffiziell sind es wahrscheinlich noch Hunderttausende mehr: Die russische Zeitung "Nowaja Gaseta" spricht unter Berufung auf eine Quelle in der russischen Präsidialverwaltung sogar von einer Million Rekruten, auf die es der Kreml abgesehen hat.

Aus dem ganzen Land werden sie derzeit zusammengezogen. Auch Männer aus den annektierten Gebieten Luhansk, Donezk, Saporischschja, Cherson und von der Krim sollen für Russland in der Ukraine kämpfen. Bisher wurden schon mehr als 222.000 Rekruten einberufen, sagt Putin. 16.000 Männer sollen bereits im Kampfeinsatz sein.

Viele Russen wollen nicht in den Krieg ziehen. Hunderttausende Männer fliehen, per Flugzeug, Zug, mit dem Auto oder sogar dem Fahrrad. An den Grenzen zu den Nachbarländern bilden sich kilometerlange Schlangen.

Erst Verwarnung, dann Gefängnis

Aber wer den Kriegsdienst verweigert und erwischt wird, riskiert seine Freiheit. Putin hat kurz nach der Teilmobilisierung die Maßnahmen gegen Kriegsdienstverweigerer verschärft. Russen im wehrpflichtigen Alter müssen mit bis zu zehn Jahren Haft rechnen, wenn sie nicht an Kampfhandlungen teilnehmen wollen. "Man kann nicht erscheinen, man kann aktiv Widerstand leisten - da gibt es Abstufungen. Und je nachdem fallen dann auch die Gefängnisstrafen unterschiedlich aus", sagt Sebastian Hoppe im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Der Politikwissenschaftler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin.

Ins Gefängnis geht es für die Kriegsdienstverweigerer nicht sofort. Sie werden erst verwarnt, berichtet Hoppe. Wenn die Rekruten auf ihren Einberufungsbescheid nicht reagieren und nicht im Rekrutierungsbüro auftauchen, fällt zunächst eine Geldstrafe an. Zudem gebe es hohe formale Hürden: "Dieser Einberufungsbefehl muss korrekt übergeben werden, er muss rechtzeitig kommen. Die Rekruten müssen Zeit haben, sich damit auseinanderzusetzen."

Theoretisch ist es in Russland möglich, den Kriegsdienst zu verweigern. Das ist im russischen Recht so vorgesehen. Wer krank oder körperlich eingeschränkt ist oder Familienangehörige pflegen muss, darf eigentlich nicht eingezogen werden. Einige Menschen brechen sich deshalb absichtlich Arme oder Beine, berichtet Hoppe.

Erfolgreiche Klagen gegen Einberufung

Einige wenige Fälle seien auch bereits vor lokalen Gericht gelandet. Eingezogene hätten gegen ihren Einberufungsbescheid geklagt, sagt Hoppe. "Interessanterweise ist es teilweise zugunsten der Klagenden ausgegangen." Diese ersten Erfolge seien jedoch mit Vorsicht zu genießen, da der Kreml derzeit alles dem Krieg unterordne, schätzt der Politikwissenschaftler. "Das wird dann ein Level höher gegeben. Da ist noch offen, wie entschieden wird."

Wer nicht kämpfen kann, ist also nicht automatisch geschützt. Viele Reservisten wurden bereits eingezogen, obwohl sie chronische Krankheiten haben oder eigentlich zu alt sind. In der Region Chabarowsk im äußersten Osten Russlands sind von einigen Tausend Einberufenen inzwischen die Hälfte zurückgekehrt. Sie waren eingezogen worden, obwohl sie eigentlich gar nicht für den Kriegsdienst geeignet waren. Putin selbst hatte Ende September von Fehlern bei der Einberufung gesprochen, die "korrigiert" werden müssten.

Hintergrund dieser massenhaften Rekrutierung auch von eigentlich ungeeigneten Männern seien starke Vorgaben des Kreml, berichtet Hoppe. Beispielsweise müsste aus einem Bezirk oder einer Kleinstadt eine bestimmte Anzahl an Menschen rekrutiert werden. "Die russische Bürokratie ist so aufgebaut, dass Loyalität und das Erfüllen von diesen Vorgaben über allem steht. Dann haben diese Bürokraten auch einen hohen Anreiz, diese Leute zu mobilisieren. Wenn dann Leute verweigern, entstehen Konflikte und man kann nicht darauf zählen, dass sie dann das Recht auf ihrer Seite haben."

Rekrutierung in ärmeren Regionen

Etwas sicherer vor der Einberufung sind Männer in ausgewählten Berufen, mit Kontakten in den Kreml oder aus großen Städten und Metropolen. "Die großen Städte in Russland und vor allem Sankt Petersburg und Moskau werden ausgespart", beobachtet Sebastian Hoppe. In Sankt Petersburg wurden nur 0,27 Prozent aller Reservisten zwischen 18 und 50 Jahren einberufen, berichtet "Nowaja Gaseta", in Moskau 0,61 Prozent. In der armen, russischen Republik Burjatien in Sibirien wurden dagegen bisher 3,19 Prozent eingezogen.

Ähnlich ist es auch in der nordöstlichen Republik Jakutien. Dort sind knapp 1,7 Prozent der wehrpflichtigen Männer von der Zwangsrekrutierung betroffen, fast doppelt so viele wie im westrussischen Kursk. In einigen Dörfern soll es fast jeden Sechsten getroffen haben. "Es trifft vor allem ärmere Leute, die sich nicht leisten können, zu migrieren", sagt Hoppe. Zudem werde in Regionen mit einem hohen Anteil an ethnischen Minderheiten überproportional eingezogen.

Das ist ein Trend des Ukraine-Kriegs: Auf das Schlachtfeld hat Russland bisher vor allem Männer aus dem Süden und entfernten Osten des Landes geschickt, aus den armen Regionen sowie aus Dörfern und Kleinstädten. Diese "Schatten-Mobilisierung" der vergangenen Monate werde nun mit der Teilmobilisierung fortgeführt, schätzt Hoppe im Podcast ein.

Rekrutierung in annektierten Gebieten ist "Kriegsverbrechen"

Ethnische Minderheiten in Russland werden nicht nur gezielt an die Front geschickt, sie können auch kaum vor der Einberufung fliehen. Einzelne Gruppierungen wie beispielsweise Tschetschenen würde die Ausreise verweigert, berichtet ntv-Reporter Jürgen Weichert. "Das liegt möglicherweise daran, dass der tschetschenische Machthaber Kadyrow sagt, die Tschetschenen bleiben im Land, die werden im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt."

Betroffen ist auch die muslimische Minderheit der Krimtataren. Von ihnen haben besonders viele Einberufungsbescheide bekommen, so Sebastian Hoppe. Sie leben unter anderem auf der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer, die Russland schon seit acht Jahren besetzt hält.

Und auch in den vier anderen ukrainischen Gebieten, die Russland Anfang Oktober annektiert hat, werden Männer rekrutiert: in Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. "Völkerrechtlich ist es ein Kriegsverbrechen, in besetzten Gebieten die Zivilbevölkerung zu mobilisieren und für Kriegshandlungen einzusetzen", erläutert Sebastian Hoppe. Den Männern würden in den Gebieten teilweise die Mobiltelefone abgenommen.

Angst vor Verhaftung

Wer es über die russische Grenze schafft, nach Georgien oder Kasachstan zum Beispiel, kann dort erst einmal einige Monate bleiben. Es besteht zunächst nicht die Gefahr, dass sie als Fahnenflüchtige entdeckt und zurückgebracht werden. Sicher fühlten sich die Kriegsdienstverweigerer trotzdem nicht, berichtet der Russlandexperte. "Die misstrauen diesem Frieden und der Sicherheit und achten schon darauf, wem sie was erzählen, weil sie eben Angst haben, dass dann doch selektiv Geheimdienste auf sie aufmerksam werden und sie beispielsweise in der Türkei verhaftet und wieder nach Russland überführt werden."

Wer doch eingezogen wird, landet irgendwann an der ukrainischen Front. Viele der neuen russischen Rekruten werden auf dem Schlachtfeld den Tod finden. Als Kanonenfutter bezeichnen sie viele Militärexperten. Die Soldaten haben oftmals kaum Erfahrung auf dem Schlachtfeld und sind schlecht ausgebildet. Die letzte Möglichkeit für sie ist häufig, überzulaufen oder sich gefangen nehmen zu lassen.

Quelle: ntv.de


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