Ob in der Bahn, im Büro oder in der Supermarktschlange - es wird so viel gehustet und geschnieft wie schon lange nicht mehr. Das zeigt sich auch in den Statistiken für akute Atemwegsinfektionen: Bis Mitte Dezember kletterte die Erkältungsrate auf elf Prozent. Den Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zufolge waren damit zuletzt rund 9,3 Millionen Menschen in Deutschland akut betroffen. "Der aktuell sehr hohe Wert überschreitet sogar die Höchstwerte, die sonst in starken Grippewellen bisher erreicht wurden", heißt es in einer Lageeinschätzung der Gesundheitsexperten. Doch woran liegt das?
Als Grund für die hohe Anzahl an Krankheitsfällen wird in sozialen Netzwerken immer wieder der Begriff der "Immunschuld" genannt. Es wird argumentiert, dass durch die Lockdowns und Abstandsmaßnahmen der vergangenen Jahre ein gewisser "Rückstau" an Infektionen aufgebaut wurde, die jetzt quasi abgearbeitet wird. Das Immunsystem sei von Maske und Co. nicht ausreichend trainiert worden. Andere Viren würden nun heftiger zuschlagen können als früher.
"Wir hatten zwei Jahre lang weder Kontakt zu Influenzaviren noch zu den anderen grippalen Infekterregern", sagt der Mediziner Christoph Specht ntv. "Eine natürliche Boosterung blieb somit aus." Das habe dazu geführt, dass die Infektionen jetzt häufiger und auch etwas schwerer werden, erklärt der Experte weiter. "Das wird mit der Zeit aber auch wieder nachlassen."
Allerdings sei es auch nicht so, dass das Immunsystem sich in den letzten Jahren so gelangweilt habe, dass es abgebaut habe, sagt Immunologe Carsten Watzl dem RBB. Der Begriff "Immunschuld" sei irreführend, da er suggeriere, dass man wie auf ein Konto eine gewisse Anzahl an Infektionen einzahlen müsse. Das stimme aber nicht. "Das Immunsystem ist kein Muskel. Wenn wir das mal eine Zeit lang nicht benutzen, ist es immer noch genauso fit wie vorher." Es sei viel relevanter, mit welchem Erreger man in Kontakt komme.
Viren stapeln sich geradezu
"Das Immunsystem wird sehr spezifisch auf bestimmte Krankheitserreger trainiert", erklärt Reinhold Förster von der Medizinischen Hochschule Hannover im Bayerischen Rundfunk. Einige der Trainingseinheiten seien in der Pandemie ausgefallen. Durch das Masketragen habe man zum Beispiel keinerlei "Trainingseinheiten" für Krankheitserreger in Lebensmitteln verpasst. Für Viren, die die Atemwege betreffen, jedoch schon: "Das Immunsystem hat sich deshalb deutlich weniger mit Erkältungsviren auseinandergesetzt", so Förster.
Als Grund für die aktuelle Krankheitswelle sehen die drei Experten jedoch ein Zusammentreffen mehrerer Faktoren: Aktuell finden neben anderen Infektionen, massive Influenza- und RSV-Wellen parallel statt. Grippe-, Corona-, Rhino- und Adenoviren stapeln sich momentan geradezu. Daher sei es auch möglich, dass man sich nun innerhalb von kurzer Zeit, mehrmals nacheinander mit unterschiedlichen Viren ansteckt", sagt Immunologe Förster. "Die Immunität, die man gegen das eine Virus hat, hilft nicht, um eine Immunität gegen ein anderes zu bekommen." Daher sei zum Beispiel eine Infektion mit dem Rhinovirus, dann mit Influenza und anschließend mit dem klassischen Corona-Erkältungsvirus durchaus denkbar.
Besonders Kinder im Alter von 0 bis 4 Jahren sind laut RKI derzeit besonders häufig krank und von Atemwegsinfekten betroffen. Das zeigt sich auch in den Kinderkliniken, die vielerorts an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Förster sieht den Grund dafür in der nahezu komplett ausgebliebenen RSV-Welle im Jahr 2020. "Die Kinder konnten sich in diesen Jahren nicht infizieren und hatten daher keinerlei Chance, eine Immunität zu entwickeln", sagt er dem Sender. Dieses Jahr gebe es daher einen Nachholeffekt, der auch in anderen Ländern so zu beobachten sei.
Quelle: ntv.de
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