Rentiere besitzen besondere Verdauungsstrategie

  25 Dezember 2023    Gelesen: 760
  Rentiere besitzen besondere Verdauungsstrategie

Rentiere gehören zur Weihnachtszeit dazu. Die hoch im Norden lebende Hirschart besitzt eine besonders ausgeklügelte Form der Verdauung. Die Tiere kauen wieder, während sie schlafen. So bereiten sie sich optimal auf den Winter vor, erklären Fachleute.

Rentiere scheinen über eine ziemlich clevere Strategie zu verfügen, um sich während der hellen arktischen Sommer genug Gewicht anzufuttern und gleichzeitig auszuruhen: Sie schlafen während des Wiederkäuens. Das legt eine Studie unter Leitung von Forschenden der Universität Zürich nahe. Auf diese Weise könnten die Tiere fast rund um die Uhr fressen, wenn das Nahrungsangebot reichlich ist, und sich so auf den langen und nahrungsarmen arktischen Winter vorbereiten.

Auf dem Speiseplan der Tiere aus der Familie der Hirsche steht vor allem die Rentierflechte, die auch bei den eisigen Temperaturen der Arktis noch wächst, aber auch andere Flechten, Gräser und Sträucher. Diese schwer verdauliche Nahrung wird zunächst nur grob zerkaut und später von den Tieren hochgewürgt und ähnlich wie bei Kühen wiedergekäut, bevor sie endgültig verdaut wird.

Verdauungsarbeit im Schlaf

Während eben jenes Wiederkäuens scheinen die Tiere zumindest teilweise zu schlafen. Darauf weisen die Ergebnisse einer Untersuchung hin, die im Fachblatt "Current Biology" veröffentlicht wurden. "Je mehr Rentiere wiederkäuen, desto weniger zusätzlichen Non-REM-Schlaf brauchen sie", führt Erstautorin und Neurowissenschaftlerin Melanie Furrer von der Universität Zürich in einer Mitteilung aus. Dies erlaube den Tieren vermutlich, Zeit zu sparen und gleichzeitig ihre Schlaf- und Verdauungsbedürfnisse zu decken - vor allem in den polaren Sommermonaten, wenn die Sonne nicht untergeht.

Die europäische Forschungsgruppe analysierte die Hirnwellen einer Herde eurasischer Tundra-Rentiere (Rangifer tarandus tarandus) im norwegischen Tromsø während der Herbst-Tagundnachtgleiche, der Sommersonnenwende, wenn die Sonne im hohen Norden nicht untergeht, und der Wintersonnenwende, wenn sie nicht aufgeht. Dabei handelte es sich um weibliche Tiere einer in Gefangenschaft gehaltenen Herde der "Arctic University of Norway", die in Innenställen mit kontrollierter Beleuchtung, unbegrenztem Futter und konstanter Temperatur untersucht wurden.

Die Forschenden stellten fest, dass die Rentiere im Winter, Sommer und Herbst ungefähr gleich viel schliefen, obwohl sie im Sommer viel aktiver waren. "Die Tatsache, dass Rentiere im Winter und Sommer gleich viel schlafen, deutet darauf hin, dass sie andere Strategien haben müssen, um mit der begrenzten Schlafzeit im arktischen Sommer zurechtzukommen", erklärt Furrer.

Verschiedene Schlafphasen ermittelt

Im Schnitt verbrachten die Rentiere pro Tag 5,4 Stunden im Non-REM-Schlaf, 0,9 Stunden im REM-Schlaf und 2,9 Stunden mit Wiederkäuen. Der REM-Schlaf und der Non-REM-Schlaf mit seinen verschiedenen Stadien sind zwei unterschiedliche Phasen des Schlafes, die auch vom Menschen bekannt sind und sich etwa in unterschiedlichen Augenbewegungen und Gehirnwellen ausdrücken.

Tatsächlich könnten die Tiere das Wiederkäuen nutzen, um sich auszuruhen, glauben die Forschenden. So seien bei Hausschafen, Ziegen, Rindern und Zwerghirschen bereits schlafähnliche Hirnströme während des Wiederkäuens beobachtet worden. Ob das Wiederkäuen aber eine ähnlich erholsame Funktion wie Schlaf haben könnte, war bislang unklar.

Wiederkäuen und Schlafphasen im Vergleich

Die Analyse der EEG-Messwerte der Rentiere zeigte nun, dass deren Gehirnwellenmuster während des Wiederkäuens jenen ähnelten, die während des Non-REM-Schlafes auftreten. Dazu gehörte eine vermehrte sogenannte "Slow-Wave-Aktivität" mit langsamen Gehirnwellen und Schlafspindeln, also kurze Spitzen in der Gehirnaktivität, die typisch für dieses Schlafstadium sind.

Darüber hinaus zeigten schlafende und wiederkäuende Rentiere ähnliche Verhaltensweisen, so das Forschungsteam: Sie neigten in beiden Zuständen dazu, ruhig zu sitzen oder zu stehen, und reagierten weniger auf Störungen, etwa durch benachbarte Tiere. Setzte sich beispielsweise ein benachbartes Rentier hin oder stand auf, reagierten sie in 45 Prozent der Fälle, wenn sie wach waren, aber nur in 25 Prozent der Fälle, wenn sie wiederkäuten, und in fünf Prozent der Fälle, wenn sie sich im Nicht-REM-Schlaf befanden.

Die Gruppe um Melanie Furrer testete auch, ob das Wiederkäuen den Schlaftrieb der Tiere verringern könnte. Dafür entzogen sie den Rentieren zwei Stunden lang Schlaf und maßen ihre Hirnströme davor und danach. Auf diese Weise stellten die Wissenschaftler fest, dass Wiederkäuen nach einem erzwungen kurzen Schlaf den Schlafdruck verringerte. Dies könnte für die Rentiere von Vorteil sein, da sie keine Kompromisse bei der Schlaferholung eingehen müssten, wenn sie mehr Zeit mit Wiederkäuen verbrächten, so Neurowissenschaftlerin Furrer.

Jener Vorteil wäre im Sommer besonders wichtig, denn je mehr die Tiere fressen, desto mehr Zeit müssen sie mit Wiederkäuen verbringen. "Das Wiederkäuen erhöht die Nährstoffaufnahme. Deshalb ist es für Rentiere wichtig, im Sommer genügend Zeit mit Wiederkäuen zu verbringen, damit sie im Hinblick auf den Winter an Gewicht zunehmen", sagt Furrer.

Wie die Analyse ergab, verbringen Rentiere indes nur einen Teil der Zeit während des Wiederkäuens schlafend. Folgestudien sollen daher die Auswirkungen des Wiederkäuens im Schlaf mit denen des Wiederkäuens im Wachzustand vergleichen und idealerweise auch den Schlaf von Rentieren unter natürlicheren Bedingungen im Freien untersuchen. Dazu wären allerdings chirurgisch implantierte EEG-Sensoren erforderlich, im Gegensatz zu den in der Studie verwendeten nicht-invasiven Oberflächenelektroden.

Und schließlich könnte es lohnen, speziell Jungtiere zu erforschen, so Furrer: "Wir wissen, dass das Schlafbedürfnis bei Kleinkindern und Babys viel höher ist als bei Erwachsenen, daher wäre es interessant, den Schlaf bei jungen Rentieren zu untersuchen."

Quelle: ntv.de, Alice Lanzke, dpa


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