Der gigantische Thwaites-Gletscher in der Antarktis am Südpol wird nicht umsonst Weltuntergangsgletscher genannt. Er ist größer als Florida. Wenn er schmilzt, sollen die Pegel der Meere um etwa 65 Zentimeter steigen. Schon jetzt verliert er etwa 50 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr. Vier Prozent des globalen Meeresspiegelanstiegs gehen auf sein Konto.
Wenn das ewige Eis an Nord- und Südpol schmilzt, fließen Milliarden Tonnen geschmolzenes Eis in den Ozean. "In den nächsten Jahrzehnten erwarten wir einen globalen Meeresspiegelanstieg von einem Meter, was bedeutet, dass 600 Millionen Menschen innerhalb der nächsten 80 Jahre unter dem Meeresspiegel leben werden", sagt Klimaforscher Andreas Alexander bei ntv.
Der Anstieg des Meeresspiegels könnte nicht ganz so gravierend ausfallen, wenn das Eis erhalten bleibt. Ein Team aus internationalen Experten hat eine ungewöhnliche Idee: Sie möchten eine Art Unterwasservorhang vor den antarktischen Eismassen aufspannen.
Vorhang stoppt warmes Meerwasser
Einer der Wissenschaftler ist der Glaziologe John Moore von der Universität Lappland in Finnland. Er hat im Podcast "Challenging Climate" erklärt, dass man sich diesen Vorhang wie die Plastikstreifen in Supermärkten vorstellen kann, die die kalte Luft im Kühlraum und die warme Luft im Einkaufsbereich voneinander trennen. Der "schwimmende Unterwasservorhang" sei etwa "100 oder 200 Meter" hoch. Er werde von einem "Betonfundament auf dem Meeresboden" gehalten. Und es gebe Auftriebselemente, die mit Luft gefüllt sein könnten.
"Seabed Curtain" heißt das Projekt. Der flexible Vorhang würde warme Tiefseeströmungen zurückhalten. In tieferen Ozeanschichten zirkuliert warmes Meerwasser. Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Gletscher schmelzen. Durch den Vorhang könnte das Eis langsamer schmelzen, und das Eis hätte Zeit, wieder zu wachsen.
Der Vorhang soll in der Amundsensee gebaut werden, zwischen dem Thwaites-Gletscher und dem Pine-Island-Gletscher. Beide sind zusammen wie eine Blockade für den westantarktischen Eisschild. Wenn das Eis der Westantarktis schmilzt, würde der Meeresspiegel um drei Meter steigen und ganze Küstengebiete überfluten. Das Eis der beiden gigantischen Gletscher schmilzt laut einer aktuellen Studie schon seit den 1940er Jahren. Auslöser war eine El-Niño-Phase. Seitdem haben sich die Gletscher nicht erholt.
Vorhang statt Mauer
Der Unterwasservorhang soll 80 Kilometer lang sein, sagt Moore im Podcast. Das reiche, um den Hauptzuflusskanal "abzudichten", damit dadurch kein warmes Wasser zum Gletscher strömt. Dann brauche man sich keine Sorgen um die vielen kleinen Kanäle zu machen.
Schon vor einigen Jahren hatte der Forscher eine ähnliche Idee. 2018 hatte John Moore eine riesige massive Mauer unter den Eisschilden vorgeschlagen, die das warme Wasser blockieren sollte.
Im Unterschied zu damals plant er jetzt nur eine dünne Barriere. Die soll leicht entfernt werden können und keine Umweltschäden hinterlassen. Aber genauso wirksam sein. Bis das Projekt Realität wird, kann es aber noch lange dauern. Moore spricht von einem Jahrzehnt, einer seiner Kollegen sogar von 20 Jahren.
Prototyp in Cambridge getestet
Wissenschaftler an der Universität Cambridge entwickeln gerade einen Prototyp für den Unterwasservorhang, eine viel kleinere Version in einem Tank, etwa einen Meter lang. Danach soll mit immer größeren Modellen getestet werden, ob die Idee funktioniert. Noch in diesem Jahr sollen im Fluss Cam, in der Nähe der Universität verschiedene Modelle unter Wasser ausprobiert werden, entweder werden sie am Grund des Flusses installiert oder hinter einem Boot hergezogen. Wenn das klappt, geht es in rund zwei Jahren in einem norwegischen Fjord weiter. Bis die Technologie bereit ist für die Antarktis.
Der Unterwasservorhang wäre das "schwierigste Bauprojekt, das die Menschheit je unternommen hat" sagt Moore im Podcast. 50 Milliarden Dollar soll es direkt am Thwaites-Gletscher kosten. Dazu kommen unter anderem noch Kosten für die Forschung: Moore spricht sogar von bis zu 80 Milliarden Dollar. "Das klingt nach verdammt viel Geld." Es verteile sich aber auf einen Zeitraum von zehn Jahren. "Und Sie müssen das direkt mit den Kosten für die Instandhaltung von Küstenschutzanlagen auf der ganzen Welt vergleichen, die sich auf 40 Milliarden Dollar pro Jahr belaufen."
Das Projekt habe zudem eine Lebensdauer von 100 Jahren, so der Eiswissenschaftler. "Die Vorhangelemente würden etwa alle 20 Jahre ausgetauscht werden, aber das Betonfundament sollte etwa 100 Jahre halten."
"Über das Undenkbare nachdenken"
Der Vorschlag der Unterwasservorhänge wird kontrovers diskutiert. Einige Experten sagen, es wäre besser, die Kohlenstoffemissionen zu verringern, um die Gletscherschmelze zu verhindern. Andere halten den Vorhang nur für eine Notlösung - oder haben Angst, dass er sich auf die Ökosysteme auswirkt.
Forscher weltweit haben Ideen, die ähnlich verrückt klingen: In der Schweiz werden Gletscher mit riesigen Tüchern abgedeckt und ein Glaziologe will die Gletscherschmelze mit Kunstschnee stoppen.
Vielleicht braucht es gerade solche Visionäre wie Moore, der sagt: Geoengineering zu machen, bedeutet oft, über das Undenkbare nachzudenken.
Quelle: ntv.de
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