Der BVB steht am Scheidepunkt

  21 April 2016    Gelesen: 555
Der BVB steht am Scheidepunkt
Im Pokalhalbfinale trifft Borussia Dortmund auf Hertha BSC. Die Partie in Berlin entscheidet darüber, wie eine Saison, in der der BVB viel geleistet hat, in der Rückschau wahrgenommen wird - auch wenn Trainer Thomas Tuchel das anders darstellt.
Eine Stunde nach dem sonntäglichen Bundesligakick gegen den Hamburger SV herrschte in den Katakomben des Dortmunder Stadions, wo sich Journalisten und Spieler in der Mixed Zone zum Gespräch treffen, eine merkwürdige Atmosphäre. Niemand im Kreise der Dortmunder Profis mochte sich eingehend mit dem gerade absolvierten Spiel beschäftigen. Stattdessen schweiften die Gedanken drei Tage in die Vergangenheit und drei Tage in die Zukunft. Zurück zu jenen niederschmetternden Erlebnissen beim denkwürdigen Europa-League-Aus in Liverpool und nach vorn zum Pokal-Halbfinale, das heute Abend im Berliner Olympiastadion steigt.

Kapitän Mats Hummels berichtete davon, wie sich ein Teil der Mannschaft nach der Rückkehr aus England in Eigeninitiative traf, um das angeschlagene Ego aufzupäppeln. Zudem führte Trainer Thomas Tuchel seiner Belegschaft in einer ausführlichen Sitzung vor, wie es passieren konnte, sich trotz einer klaren Führung als Mannschaft komplett aus der Bahn werfen zu lassen. Den Absturz aller Systeme vorgeführt zu bekommen, "das hat nochmal richtig wehgetan", berichtete Hummels.

Jeder Psychologe weiß, dass viel reden dabei hilft, mit traumatischen Erlebnissen fertig zu werden. "Es wäre heuchlerisch, wenn wir sagen würden, das ist jetzt verarbeitet", sagt Tuchel: "Das wirkt nach, und das ist auch völlig in Ordnung." Was dabei zielführend ist, weiß der Trainer genau: "Weiterspielen. Wenn du draußen auf der Bühne stehst, kannst du zwar wieder eine Niederlage erleiden, aber das ist kein Weltuntergang."

Die Therapie zeitigte beim Erfolg gegen den HSV erste Erfolge. Mittelfeldspieler Gonzalo Castro erlebte, "wie uns die Tore befreit und unser Spiel beflügelt haben. Es war wichtig, eine gute Reaktion zu zeigen."

Letzte Ausfahrt zu einem Titel

Tuchel sieht seine Mannschaft in einer wichtigen Phase der Entwicklung. Auch wenn er genau weiß, dass die öffentliche Wahrnehmung eine andere ist, kämpft der 42-Jährige mit Vehemenz dagegen an, sein Wirken und das seiner Spieler daran zu beurteilen, ob am Ende Titelgewinne herausspringen: "Du kannst die Konstanz und das, was die Mannschaft ausstrahlt, nicht an ein, zwei Spielen festmachen."

Das kann man durchaus so sehen, schließlich hat der BVB unter Tuchel in drei Wettbewerben erstaunlich viele positive Resultate abgeliefert und mit der Rückkehr in die Champions League das wichtigste Saisonziel frühzeitig erreicht. Doch das ist nur eine Seite der Medaille: Nach dem krachenden Niederschlag in Liverpool steht Borussia Dortmund am Scheidepunkt einer Saison, in der sich der Revierklub bislang bravourös geschlagen hat, am Ende jedoch mit leeren Händen dastehen könnte. Nach dem K.o. im Viertelfinale in der Europa League steht heute Abend bereits das nächste Spiel auf der Agenda, bei dem 90 Minuten darüber entscheiden, ob der Weg weitergeht oder zu Ende ist.

Auch wenn die Atmosphäre bei weitem nicht so tosend wie in Liverpool sein wird, erwartet Tuchel, der als Trainer noch nie im Olympiastadion gewonnen hat, erneut eine Kulisse, "bei der wir auf viele Zuschauer treffen, die ihre Mannschaft absolut unterstützen". Dortmunds Trainer kann die Dinge rhetorisch drehen und wenden wie er will: Der BVB steht beim Halbfinale extrem unter Druck: Die Meisterschaft ist abgehakt, der Traum vom erstmaligen Gewinn der Europa League endete in einem Trauma, der nationale Cup ist damit die letzte Ausfahrt zu einem Titel.

Kein Bedarf an epischen Schlachten

Wird auch diese letzte Titelchance vergeben, muss eine Saison, in der sich der BVB in neun Monaten so glänzend verkaufte, neu beurteilt werden. Die schwierigste Phase seiner noch jungen Dortmunder Schaffensperiode wird für Tuchel zur echten Herausforderung: "Es wird eine Zeit, in der wir uns neu kennenlernen", sagte der Schwabe unter den Eindrücken der Geschehnisse von Liverpool: "Es wird interessant, wie wir damit umgehen." Die kommenden Wochen werden zu einer Prüfung, bei der die Mannschaft reifen, an der sie allerdings auch zerbrechen kann.

Das Pokalspiel wird zum Gradmesser, wozu die Borussia bis zum Saisonende noch fähig ist. Wenn Tuchel die Wertigkeit des letzten Wettbewerbs betrachtet, in dem seine Mannschaft noch eine Trophäe gewinnen kann, wählt er einen philosophischen Ansatz: "Im Pokal ist nicht der Weg das Ziel, sondern das Ziel das Ziel." Das ist eine leicht kryptische Wortwahl, man kann die Dinge auch stringenter auf den Punkt bringen: "Es geht darum, ins Finale einzuziehen und es zu gewinnen." Ob seine Mannschaft in Berlin schön spielt und ein Spektakel abliefert, ist für Dortmunds Trainer dabei nachrangig: "Epische Schlachten bitte nur noch mit positivem Ausgang für uns", sagt Thomas Tuchel: "Von allem anderen haben wir für die nächsten zehn Jahre genug."

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