Die Biobücher könnten umgeschrieben werden: Ein Forschungsteam präsentiert eine bislang unbekannte Lebensform, die reinen Stickstoff in lebenswichtige Verbindungen umwandelt. Nach bisherigem Wissen sind nur Bakterien und ähnliche Mikroorganismen (Archaeen) dazu fähig. Doch nun entdeckte das Team um Jonathan Zehr von der University of California eine Meeresalge, die auf besondere Weise mit einem Cyanobakterium fusioniert ist. Das Bakterium hat dabei so viele Gene verloren, dass es nun als Organell dient, eine Art Mini-Organ in den Algenzellen.
Das Fachblatt "Science" hat die Studie über das Stickstoff-fixierende Organell zur Titelstory erhoben. Nach Meinung der Forschenden können ihre Erkenntnisse einmal zur Entwicklung von Pflanzen beitragen, die ihren eigenen Dünger herstellen sollen.
Das Forschungsteam nennt das Organell Nitroplast - in Anlehnung an Stickstoff (englisch Nitrogen) und an Chloroplasten, die grünen Zellbestandteile der Pflanzen, die Sauerstoff produzieren. Deren Vorläufer - auch ein Cyanobakterium - war ebenfalls in eine größere Zelle eingewandert, aus der später alle Pflanzen hervorgegangen sind.
Verbindung ist mehr als nur eine Symbiose
Rund 80 Prozent der Luft bestehen aus Stickstoff (N2), doch Pflanzen und Tiere können ihn nicht verwerten. Einige Pflanzen beherbergen in ihren Wurzelknöllchen Bakterien, die Stickstoff aus der Luft in nutzbare Verbindungen umwandeln. Dazu zählen Bohnen und andere Hülsenfrüchtler, die den Boden dann mit natürlichem Stickstoffdünger versorgen.
Bislang nahmen Forschende an, dass das Cyanobakterium Atelocyanobacterium thalassa in der einzelligen Meeresalge Braarudosphaera bigelowii lebt. Es schien eine Symbiose zu sein: Das Cyanobakterium als Endosymbiont sorgt für die lebensnotwendigen Stickstoffverbindungen, die Alge für den Kohlenstoff. Doch nun haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler genauer geschaut: Die Verbindung ist demnach mehr als nur eine Symbiose zwischen zwei Lebewesen.
Bereits im März schrieb ein Team um Zehr im Journal "Cell", dass die Wachstumsraten der Alge und des Cynobakteriums synchronisiert sind. Es bezeichnete das Bakterium als "organellenähnlich". Die "Science"-Studie zeigt jetzt unter anderem, dass das Cyanobakterium eine Reihe von Proteinen aus seinen Wirtszellen aufnimmt, die es selbst nicht produzieren kann, weil es keine Gene mehr dafür hat.
Nitroplast entstand vor 100 Millionen Jahren
"Das ist eines der Kennzeichen dafür, dass sich etwas von einem Endosymbionten zu einem Organell entwickelt", sagte Zehr. "Sie fangen an, DNA-Stücke wegzuwerfen, und ihre Genome werden immer kleiner." Sie werden laut Zehr nach und nach abhängig davon, dass die Mutterzelle ihnen die entsprechenden Proteine liefert.
So fehlen dem Nitroplasten etwa Proteine, die zum Bau von bestimmten Aminosäuren oder Genbausteinen nötig sind. Die Proteine sendet die Algenzelle mit einer Art Adressaufkleber zum Nitroplasten. Zudem teilen sich Algenzelle und Nitroplast synchron. Jede neue Algenzelle erhält daher einen Nitroplasten. Das Cyanobakterium Atelocyanobacterium thalassa konnte noch nie einzeln im Labor kultiviert werden.
Es sei rar, dass Organellen aus solchen Endosymbionten entstehen, sagte Erstautor Tyler Coale. Der Postdoktorand an der University of California zählt zwei Beispiele auf. "Das erste Mal, glauben wir, geschah es, als sich alles komplexe Leben entwickelte", sagte er mit Blick auf die Mitochondrien. Diese Kraftwerke der Zellen wandeln die Nahrung in Energieträger um. "Alles Kompliziertere als eine Bakterienzelle verdankt sein Dasein diesem Ereignis", ergänzte Coale. "Vor etwa einer Milliarde Jahren geschah es erneut mit dem Chloroplasten, und das brachte uns die Pflanzen." Nach Angaben der Universität könnte der Nitroplast vor etwa 100 Millionen Jahren entstanden sein.
"Eine neue Perspektive"
Die Studie zeige, dass sich das Cyanobakterium von einem Symbionten zu einem Organell für die Stickstofffixierung - dem Nitroplasten - entwickelt habe, schreibt Ramon Massana vom Institut de Ciències del Mar (CSIC) in Barcelona in einem "Science"-Kommentar. Damit sei eine Funktion, von der angenommen wurde, dass sie nur von Bakterien und Archaeen ausgeübt wird, auf höhere Lebewesen ausgeweitet worden.
"Dieses System bietet eine neue Perspektive für die Stickstofffixierung und könnte Anhaltspunkte dafür liefern, wie ein solches Organell in Nutzpflanzen eingebaut werden könnte", so Coale. Bislang wird Stickstoff aus der Luft im sogenannten Haber-Bosch-Verfahren zu Ammoniak umgewandelt, das eine Grundlage für Dünger ist. Das energieaufwendige Verfahren ermöglichte den Durchbruch für die industrielle Landwirtschaft, dabei entsteht aber viel Kohlendioxid.
Quelle: ntv.de, Simone Humml, dpa
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