Wann Turbulenzen lebensgefährlich werden

  24 Mai 2024    Gelesen: 3071
  Wann Turbulenzen lebensgefährlich werden

Turbulenzen während eines Flugs sind unangenehm, aber meist harmlos. Anders bei Flug SQ321: Auf dem Weg von London nach Singapur wird die Singapore-Airlines-Maschine heftig durchgeschüttelt. Dutzende Menschen werden zum Teil schwer verletzt, ein Mann stirbt. Wie konnte es dazu kommen?

Viele werden es kennen: Man sitzt im Flugzeug, plötzlich fängt es an zu wackeln und die Anschnallzeichen leuchten auf - ein Albtraum für Menschen mit Flugangst. Doch in der Regel sind solche Turbulenzen harmlos und von kurzer Dauer, nach wenigen Minuten gleitet das Flugzeug meist wieder sanft durch die Luft. Ab und an können Turbulenzen allerdings auch sehr heftig ausfallen, wie die vor wenigen Tagen auf dem Flug SQ321 von London nach Singapur. Dutzende Insassen wurden zum Teil schwer verletzt. Ein Passagier starb.

"Wer nicht schnell genug angeschnallt war, wurde in der Kabine einfach in die Luft geschleudert", erzählt Azmir Dzafran, einer von 211 Passagieren der Singapore-Airlines-Maschine, der "New York Times". "Innerhalb eines Augenblicks schlugen sie an der Kabinendecke auf und fielen zurück auf den Boden." Zu diesem Zeitpunkt überfliegt die Boeing 777-300 in einer Höhe von 37.000 Fuß den Süden von Myanmar. Plötzlich sackt das Flugzeug ab. Es habe sich angefühlt, wie auf einer Achterbahn, erinnert sich Dzafran. Die Fluggesellschaft spricht später von "unvorhergesehenen, extremen Turbulenzen". Wie konnte es dazu kommen?

Kaltluftturbulenzen schütteln Flugzeug durch

Turbulenzen werden wegen der ungewollten Höhenänderung des Flugzeugs oft als "Luftloch" bezeichnet. Streng genommen ist der Begriff aber nicht korrekt, denn der Tumult entsteht nicht durch einen geringeren Luftdruck, sondern durch Luft- beziehungsweise Windströmungen. Normalerweise können sich Pilotinnen und Piloten darauf vorbereiten und die Passagiere rechtzeitig warnen. Sie beobachten das Wetterradar und führen zusätzlichen Treibstoff mit sich, um bei Bedarf eine Wetterberuhigung abwarten zu können. Oder sie folgen dem Kurs anderer Flugzeuge, die das Gebiet kürzlich überflogen und die Fluglotsen vor Wetterumschwüngen gewarnt haben.

Problematisch wird es erst dann, wenn Turbulenzen unabhängig von Unwettern oder speziellen Wolken auftreten. Diese sogenannten Kaltluftturbulenzen werden meist von Jetstreams ausgelöst, wenn diese unverhofft abdrehen. Viele Flugrouten nutzen die Höhenwinde für zusätzlichen Antrieb, etwa über dem Atlantik. Doch die übereinanderliegenden Windströme von Jetstreams können unterschiedlich schnell sein. Zwischen den beiden Strömen bilden sich daher Luft-Verwirbelungen. Diese sind für das Auge und für Radar unsichtbar. Die Folge: Das Flugzeug wird plötzlich und kräftig durchgeschüttelt.

Folgen des Klimawandels

Ob Kaltluftturbulenzen auch für den verheerenden Tumult an Bord der Singapore-Airlines-Maschine verantwortlich waren, muss noch untersucht werden. Fest steht allerdings: Diese unvorhersehbaren Turbulenzen nehmen mit dem Klimawandel zu. Denn die Luftströme bilden sich durch Temperaturunterschiede an der Erdoberfläche, und diese verändern sich durch die globale Erderwärmung.

Ein Wissenschaftsteam der englischen Universität Reading hatte erst vergangenes Jahr in einer Studie nachgewiesen, dass seit 1979 mittelschwere Turbulenzen über dem Nordatlantik um 37 Prozent zugenommen haben, schwere Turbulenzen sogar um 55 Prozent. Auch auf anderen Flugrouten gebe es mehr Turbulenzen als vor einigen Jahren. Eine frühere Studie besagt zudem, dass in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts mehr als doppelt so häufig turbulente Bedingungen in der Atmosphäre herrschen werden wie in vorindustrieller Zeit.

"Schnallen Sie sich auf keinen Fall ab"

Die gute Nachricht ist: Grundsätzlich sind Flugzeuge stabil genug gebaut, um auch schwere Turbulenzen auszuhalten. Für die Passagiere kann es dennoch gefährlich werden. Einer Statistik der US-Flugbehörde FAA zufolge wurden von 2009 bis 2022 163 Menschen durch Turbulenzen schwer verletzt, ein Großteil von ihnen waren Crew-Mitglieder. "Es ist wie mit einem Auto mit 900 km/h durch ein Schlagloch zu fahren", sagt ein erfahrener Pilot aus der Vereinigung Cockpit dpa. "Schnallen Sie sich auf keinen Fall ab", rät er.

Für viele Insassen der Singapore-Airlines-Maschine kommt der Anschnallhinweis Augenzeugenberichten zufolge zu spät. Mehrere Personen seien an die Decke geschleudert worden, berichtet eine Passagierin bei Sky News. Es habe ausgesehen, als ob die Menschen, die zuvor im Gang herumgelaufen sind, Purzelbäume schlagen würden. Nach der Notlandung in Bangkok kommen zwanzig Passagiere auf die Intensivstation, einige müssen am Rückgrat operiert werden. Dutzende weitere sind verletzt. Ein 73-jähriger Brite starb - nach Angaben der Behörden möglicherweise an einem Herzinfarkt.

Laut Experten sind extreme Turbulenzen wie in diesem Fall äußerst ungewöhnlich. Zunächst hieß es sogar, dass das Flugzeug um rund 2000 Meter abgesackt sei. Dies ging aus Flugdaten der Flugtracking-Website flightradar24 hervor. Dass dafür allerdings die Turbulenzen verantwortlich waren, hält Thomas Gerz vom Institut für Physik der Atmosphäre am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt für unwahrscheinlich.

Denkbar sei, dass der Autopilot die Maschine infolge des Zwischenfalls allmählich auf eine geringere Flughöhe gesteuert hat, um weiteren Turbulenzen zu entgehen, sagt Gerz dem "Spiegel". Üblich sei bei schwachen bis mittelschweren Turbulenzen ein Absacken um wenige Meter, bei starken Turbulenzen bis zu einigen Hundert Metern. Dem Experten zufolge ist die Absenkhöhe aber gar nicht so entscheidend. "Es geht eher um den schnellen Wechsel von ruhigem zu unruhigem Flug."

Quelle: ntv.de


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