Amerika zielt auf das Herz der deutschen Wirtschaft

  28 April 2016    Gelesen: 1023
Amerika zielt auf das Herz der deutschen Wirtschaft
Das Klischee lautet: Die USA sind uneinholbar, was digitale Technologie betrifft. Bei klassischer Industrie und Maschinenbau ist Deutschland spitze. Doch jetzt greift das Silicon Valley auch hier an.
Ein Motor, der die Werkstatt schon vorab informiert, dass er wohl bald kaputtgehen wird. Eine Straßenlaterne, die auch WLAN-Hotspot ist, E-Autos auftankt und nebenbei die Feinstaubkonzentration an die Verkehrsleitzentrale schickt. Ein Smartphone, das Fußgänger und Fahrradfahrer für Autofahrer auch im toten Winkel sichtbar macht.

Viele Ausstellungshighlights auf der Industrieschau Hannover Messe haben eines gemeinsam: Die schicke Hardware aus Stahl und Kunststoff mit der zugehörigen Mechanik haben deutsche Firmen hingestellt. Doch die Intelligenz der Maschine kommt von amerikanischen Software-Giganten – so wie in den genannten Beispielen vom Windows-Erfinder Microsoft.

Kein Zweifel: Der bislang weltweit führende und erfolgsverwöhnte deutsche Maschinenbau lässt sich auf der Messe vom Partnerland USA die Schau stehlen. Digitalisierung der Produktionsprozesse, Internet der Dinge, Industrie 4.0: Die derzeit heißesten Schlagworte der weltgrößten Industrie-Ausstellung scheinen exklusiv von Intel, Google, Microsoft und HP besetzt zu sein.

Gerade noch hatten sich deutsche Wirtschaftspolitiker gegenseitig dazu gratuliert, dass Deutschland die 2008 ausgebrochene globale Finanzkrise so gut überstanden hat: Das habe man dem im weltweiten Vergleich hohen industriellen Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 23 Prozent zu verdanken, rief in Hannover auch Ulrich Grillo, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), in Erinnerung.

Kein Selbstvertrauen in Deutschland

Doch längst wachsen die Zweifel, dass die hochgelobten altmodischen Industrien aus Deutschland auch Garant für Wohlstand und Wachstum in der Zukunft sein werden: Auf der Hannover Messe war es auf einmal wieder da, das längst vergessen geglaubte, böse Wort von der "Old Economy".

Der Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik (VDE) hatte seine Mitgliedsunternehmen deswegen befragt. Und heraus kam ein Stimmungsbild an der Grenze zur Selbstaufgabe: Acht von zehn Unternehmen zeigten sich in der Umfrage besorgt, "dass Deutschland im Innovationswettlauf angesichts der US-Dominanz bei technischer Software und Internetplattformen zurückfällt und irgendwann in der Kreisliga spielt", hieß es bei der Ergebnispräsentation in Hannover.

Und damit nicht genug: Nur eins von zehn Unternehmen war der Meinung, dass die deutschen Hochschulen auf das Thema "Internet der Dinge", also der digitalen Vernetzung der Produktionsprozesse, gut vorbereitet sind. Die Hälfte der Befragten sieht die Gefahr, dass die deutsche Industrie "zu lange an klassischen Technologien, Methoden, Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodellen festhält".

Die Frage, ob ihr Unternehmen sich bereits mit dem "Internet der Dinge" beschäftigt, bejahten nur drei von zehn Unternehmen. Damit ist es auch kein Wunder, dass Europa und insbesondere die sonst so hochgelobte deutsche Industrie beim Innovationswettlauf sogar die rote Laterne tragen: In der Selbsteinschätzung der deutschen IT- und Elektronikbranche sahen nur sieben Prozent der Befragten Deutschland in einer Vorreiterposition.

Zum Vergleich: Südkorea trauten 23 Prozent die Führungsrolle zu, Japan 25 Prozent und China 20 Prozent. Die USA wurden gleich von 52 Prozent der Befragten als Speerspitze der Industriedigitalisierung betrachtet.

Typische "German Angst"

Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) scheint davon nicht mal sonderlich überrascht. "Was die Akzeptanz der Digitalisierung betrifft, haben wir Probleme bei den kleinen Unternehmen", gibt sie zu. Ihr Haus werde daher reagieren. Ein neues Förderprogramm mit immerhin 400 Millionen Euro soll den Mittelstand unterstützen bei der Forschung und Entwicklung von Lösungen für die sogenannte vierte industrielle Revolution, etwa im Bereich der Mikroelektronik.

"Die kleinen Unternehmen sollen sich stärker beteiligen", sagt Wanka. Bis zu 100.000 Euro gesteht das Ministerium einem Unternehmen zu – und zwar unbürokratisch, wie die Ministerin betont. "Bislang überfordern wir die kleinen Firmen bei der Antragstellung für Fördermittel. Also vereinfachen wir den Prozess", verspricht Wanka.

In der VDE-Umfrage erschien das Selbstbewusstsein der deutschen Elektronik- und Informationstechnikbranche letztlich so angeknackst, dass die aufgeschreckten Verbandsspitzen sogleich versuchten, das Ergebnis zu relativieren: Der ausgeprägte Pessimismus unter den deutschen Mitgliedsunternehmen sei wohl Ausdruck der typischen "German Angst" vor neuen Entwicklungen – mithin also etwas irrational übertrieben, sagt Gunther Kegel, der Vizepräsident des VDE und Geschäftsführer des Sensorenherstellers Pepperl+Fuchs.

Auch Reinhold Festge, Präsident des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), mochte so schwarz nicht sehen: "Unsere Mitglieder haben keine Angst, dass sie in diesem Wandel unter die Räder kommen könnten. Denn wir können beides: ,Big Data` und ,Big Thinking`!"

Was die Amerikaner wirklich können

Siemens-Chef Joe Kaeser sieht Deutschland bei der Digitalisierung der Industrie sogar in einer Führungsrolle. "Viele reden davon, alle befassen sich damit, aber nur wenige können es", sagt der Manager – und lässt anschließend keinen Zweifel aufkommen, wen er meint und vorne sieht.

"In Deutschland spricht man nicht nur über Industrie 4.0, hier ist der Ort, an dem es auch passiert." Vor dem eignen Personal auf dem Siemens-Stand in Halle 9 gab Kaeser zu Messebeginn sogar den Einpeitscher: "Wir haben die führende Position bei Industrie 4.0. Was wir können, kann kein anderes Unternehmen auf der Welt."

Die Amerikaner seien zwar "stark in der Entwicklung von Software – allerdings nur außerhalb von Produkten", sagte Kaeser anschließend sogar gegenüber Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und US-Präsident Barack Obama beim Besuchs des Siemens-Standes während des Eröffnungsrundgangs der Hannover Messe. "Wenn es allerdings um die Kombination aus beidem geht, also um sogenannte Embedded Systems, hat Deutschland immer noch eine weltführende Rolle."

Trotzdem riefen die deutschen Unternehmensvertreter in Hannover auch laut nach der Politik, um die Digitalisierung der Wirtschaft voranzubringen. "Das künftige Wachstum der Industrie in Deutschland und in Europa hängt auch davon ab, dass die EU einen digitalen europäischen Binnenmarkt schafft, um in Sachen Digitalisierung der Industrie mit den Amerikanern und Chinesen auch künftig mithalten zu können", warnte VDMA-Präsident Festge: "Die Europäische Union kann es sich nicht leisten, dass die Digitalisierung der Industrie auf einem Flickenteppich von 28 nationalen Initiativen vorangetrieben wird."

Eine "europäische Cloud"

EU-Kommissar Günther Oettinger versprach denn auch prompt, das Gewünschte zu liefern. Zumal die EU-Kommission erst in der vergangenen Woche ein Maßnahmenpaket zur Digitalisierung der Industrie verabschiedet hat.

Geplant wird darin etwa die Schaffung einer "europäischen Cloud", also einer virtuellen Umgebung, in der 1,7 Millionen Forscher und 70 Millionen Fachkräfte in Wissenschaft und Technologie in Europa große Mengen an Forschungsdaten speichern, verwalten und auswerten können. Industrie und Endverbraucher sollen zudem von der Einführung des superschnellen Übertragungsstandards 5G für mobile Endgeräte profitieren.

Diese "Revolution" in der Datenübertragung könne schon 2020 spürbar werden, sagte Oettinger in Hannover. Und das sei zwingend geboten. "Denn wenn die Datenmengen in Verkehr, sozialen Netzen, Telemedizin und Industrie 4.0 weiter so steigen, brauchen wir schon bald die zwölfspurige Datenautobahn. Bislang sind wir aber bestenfalls auf einer zweispurigen Trasse mit Pannenstreifen unterwegs.

Quelle : welt.de

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