Immer in Alarmstimmung
Nachdem ihre Tochter vergangenen Sommer in die erste Klasse gekommen ist, hat es viele solcher Angstmomente gegeben. Das Mädchen leidet unter Diabetes Typ 1. Was bei ihren Klassenkameraden die Bauchspeicheldrüse automatisch macht, nämlich dem Körper Insulin zur Verfügung zu stellen, das müssen bei Thora andere übernehmen. In der Kita war das kein Problem. Regelmäßig testete eine Erzieherin Thoras Blutzuckerspiegel und versorgte sie mit dem Hormon.
Die neue Grundschule im brandenburgischen Oranienburg jedoch ist mit der Zusatzarbeit überfordert. Bei mehr als zwanzig Kindern in der Klasse kann sich Doreen Schaar nicht darauf verlassen, dass die Lehrer ihre Tochter über den Schultag hinweg zuverlässig im Auge behalten. Mit der Einschulung beantragte die Mutter deshalb einen sogenannten Integrationshelfer, einen Assistenten, der dem Kind im Unterrichtsalltag zur Seite steht. Doch der wurde ihr von den Behörden verweigert. Darum müsse sie sich schon selbst kümmern, hieß es.
Eltern müssen um das Recht auf Inklusion kämpfen
Aber tragen Kinder mit Diabetes nicht einen Behindertenausweis mit einem "H" für "hilflos" als Merkzeichen? Gilt für sie nicht ebenso die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Artikel 24 vorschreibt, dass Menschen mit Behinderungen "die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern"? Und warum müssen betroffene Eltern mühsam darum kämpfen, dass ihren Kindern dieses Recht auf Inklusion gewährt wird?
Rund 35.000 Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes gibt es in Deutschland, jedes Jahr erhöht sich die Zahl um bis zu fünf Prozent. Niemand weiß, warum es immer mehr Mädchen und Jungen mit der Stoffwechselstörung gibt. Anders als bei Menschen mit Typ-2-Diabetes geht die Krankheit nicht auf Übergewicht oder zu wenig Bewegung zurück, sondern auf eine Störung des Immunsystems. "Beim Typ-1-Diabetes liegt die Ursache der zugrunde liegenden Erkrankung wahrscheinlich in einer Kombination aus Veranlagung, dem Auftreten von Virusinfekten sowie Ernährung", sagt Ralph Ziegler, Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie.
Ist die Krankheit aber einmal da, schneidet sie tief ein ins Leben der Kinder und ihrer Familien – und verschwindet nie wieder. Von nun an bestimmt das Messen, Spritzen sowie das Berechnen jeder Mahlzeit den Alltag der Betroffenen. Während die Kinder oft das Gefühl haben, ihr ganzes Leben drehe sich nur noch um Blutzuckerwerte, Insulingaben und Kohlenhydratmengen (Broteinheiten), plagt die Eltern die große Sorge vor akuten Komplikationen und Langzeitschäden einer schlechten Diabetesbehandlung: Sehbehinderungen, Nierenschäden, amputierte Füße. "In vielen Familien herrscht unterschwellig eine permanente Alarmstimmung", sagt Ziegler, der in Münster als Kinderdiabetologe arbeitet.
Da ist es wichtig, dass die Betroffenen während der Schulzeit ausreichend Hilfe bekommen. Genau das ist jedoch häufig nicht der Fall. Jede Woche säßen ihr Eltern gegenüber, die von Problemen mit der Diabetesversorgung in der Schule berichten, sagt Michaela Heinrich, Sozialarbeiterin an der Berliner Charité. Mal muss ein Kind beim Sportunterricht auf der Bank sitzen, mal darf es nicht mit zum Ausflug. Geht es auf Klassenreise, muss oft ein Elternteil mitfahren, wenn das Kind nicht zu Hause bleiben soll.
Und immer wieder kommt es vor, dass Schulleiter – gegen jede Vorschrift – Eltern auszureden versuchen, das Kind gerade an ihrer Schule anzumelden. Mal sind die Klassen zu groß, mal die Mitschüler schwierig oder die Lehrer überlastet. Zuweilen fällt dann noch das Wort "Nachbarschule" oder "Förderschule", wo das Kind besser aufgehoben sei – wer würde da als Vater oder Mutter nicht ins Grübeln kommen, ob die gewählte Schule wirklich die richtige ist? "Obwohl alle von Inklusion sprechen, haben wir den Eindruck, dass die Probleme unserer Patienten in der Schule größer geworden sind", sagt Thomas Kapellen, Diabetes-Experte an der Leipziger Uniklinik.