Deutschland schnieft und hustet: Fast acht Millionen Menschen sind laut Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) von einer Atemwegserkrankung betroffen. Vor allem die Grippe (Influenza A und B) verbreitet sich rasant. Dabei scheinen besonders Kinder zu erkranken.
Bei den 5- bis 14-Jährigen sei die Krankheitslast "ungewöhnlich hoch", heißt im aktuellen RKI-Wochenbericht. In dieser Altersgruppe erkranken derzeit so viele wie seit sieben Jahren nicht mehr - viele sogar schwer. Die Fälle haben sich seit dem Jahreswechsel mehr als verdreifacht. Doch woran liegt das?
Fehlende Impfungen
Überraschend kommt die starke Grippewelle zumindest nicht. "Es hat sich schon im letzten Sommer auf der südlichen Halbkugel abgezeichnet, dass diesen Winter die Influenza vor allem Kinder treffen wird", sagt Kinderlungenarzt Markus Rose vom Klinikum Stuttgart. Verhindern konnte man die vielen Infektionen dennoch nicht. Eine Ursache sind laut dem Experten fehlende Impfungen bei Klein- und Schulkindern.
"Wir wissen seit vielen Jahren, dass Kinder in den ersten fünf Lebensjahren nicht nur die Haupt-Krankheitslast für Influenza tragen, sondern auch - anders als bei Sars-CoV-2 - die wichtigsten Überträger auf andere Altersgruppen sind", erklärt Rose. Daher werde in vielen Ländern und auch seitens der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für alle Kinder dieser Altersgruppe eine Schutzimpfung gegen Influenza empfohlen. In Deutschland sei die Kinder-Grippeschutzimpfung jedoch "ein Stiefkind", kritisiert der Kinderlungenarzt. "Selbst unter den chronisch Kranken sind die Durchimpfungsraten kritisch niedrig."
Auch die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) plädiert für eine Impfung für Kinder. Viele Infektionen hätten "vermieden werden können, wenn die Ständige Impfkommission auch für Kinder standardmäßig eine Grippeschutzimpfung empfehlen würde", sagt ABDA-Präsident Thomas Preis der "Rheinischen Post". Bislang wird eine Impfung in Deutschland unter anderem Menschen ab 60 Jahren, Schwangeren, chronisch Kranken, Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen und Menschen mit erhöhtem beruflichem Risiko empfohlen.
Dass eine hohe Impfrate durchaus einen positiven Effekt auf das Infektionsgeschehen hat, sehe man bei Senioren, sagt Kinderlungenarzt Rose. "Bei älteren Menschen zeigen die verhältnismäßig besseren Impf-Raten und die in den letzten Saisons verfügbare, gut wirksame Senioren-Grippeimpfung erfreuliche Auswirkungen." Die Zahl der Arztbesuche wegen Atemwegsinfektionen ist laut dem RKI bei den ab 60-Jährigen zuletzt sogar leicht gesunken.
Nachholeffekte treiben Grippewelle an
Impfungen allein erklären die ungewöhnliche starke Grippewelle jedoch nicht. Schließlich entspricht das Impf-Niveau bei Kindern dem der Vorjahre - und ist entsprechend der fehlenden Empfehlung niedrig, aber unverändert. Eine größere Rolle könnten sogenannte Nachholeffekte der Pandemie spielen. Während der vergangenen Corona-Jahre haben Hygienemaßnahmen zwar die Ausbreitung des Coronavirus eingedämmt, aber auch das normale Immuntraining gegen andere Erreger von Atemwegsinfektionen verhindert. "So treffen die jedes Jahr neu entstehenden Grippeviren auf empfängliche Menschen", sagt Rose.
Was damit gemeint ist, erklärt Immunologe Carsten Watzl noch einmal genauer: "Unsere Immunität gegenüber bestimmten Erregern schützt uns nach einer durchgemachten Infektion nur zeitlich begrenzt vor einer erneuten Infektion." Wenn diese erneute Infektion unterbleibt - zum Beispiel durch Hygienemaßnahmen -, werde sie später bei Erregerkontakt "nachgeholt".
Kinder hätten während der Pandemie weniger Influenza-Immunität erwerben können, weil sie dem Virus schlichtweg weniger ausgesetzt gewesen seien, sagt auch Johannes Liese, Leiter der pädiatrischen Infektiologie und Immunologie am Universitätsklinikum Würzburg. "Daher infizieren sich viele von denen, die bisher noch keinen Influenza-Kontakt hatten, jetzt im Schulalter und erkranken dann in diesem Alter mit schwereren typischen Grippe-Symptomen wie Fieber und Abgeschlagenheit und in schlimmen Fällen auch Manifestationen wie Lungenentzündungen."
Viele Erreger und kaltes Wetter
Hinzu kommen aber auch äußere Faktoren, die die Grippewelle antreiben. "Dazu zählen anhaltend kaltes Wetter mit mehr Infektions-Gelegenheiten in Innenräumen mit größeren Personenzahlen ohne Infektionsschutz-Maßnahmen", sagt Kinder- und Jugendarzt Martin Terhardt. Mit Blick auf Schulen bedeutet das: In den Klassenzimmern fehlt ein breiter Immunschutz durch ausgebliebene Grippe-Infektionen und fehlende Impfungen.
Zudem seien die Erreger für Atemwegserkrankungen in diesem Jahr besonders stark verbreitet, sagt Immunologe Watzl. Die Ausbreitung "kann von Jahr zu Jahr unterschiedlich sein, und dieses Jahr scheinen wir wieder ein recht starkes Jahr zu haben. In den Jahren 2013 und 2017 waren die Zahlen ähnlich hoch."
Grippesaison noch nicht vorbei
Wie dramatisch die Lage stellenweise ist, zeigt ein Blick in die Krankenhäuser. So berichtet der pädiatrische Infektiologe Roland Elling von hohen Fallzahlen an der Kinder- und Jugendklinik Freiburg. "Dort mussten vergangene Woche sechs Patientinnen und Patienten intensivmedizinisch behandelt werden, das ist auch für unser Zentrum ungewöhnlich viel", sagt Elling. "Auch auf unseren Normalstationen sehen wir aktuell eine hohe Zahl an hospitalisierungspflichtigen Influenza-Infektionen. Auch der ambulante pädiatrische Sektor ist durch Influenza stark ausgelastet."
Am Universitätsklinikum Würzburg sieht es ähnlich aus. Zwar ist "die Auslastungs-Grenze noch nicht erreicht", bilanziert Infektiologe Liese in der dortigen Kinderklinik. Aber: Sollten die RSV-Infektionen in den nächsten Wochen stark zunehmen, könne es wieder zu einer Überlastung der Kliniken kommen, sagt der Mediziner.
Ob sich die Situation tatsächlich weiter zuspitzen wird, kann niemand mit Gewissheit sagen. Fest steht aber: Die Grippesaison ist noch nicht vorbei. "Es lohnt sich noch, sich zeitnah gegen Grippe impfen zu lassen, wenn man bisher noch nicht geimpft war oder die Infektion nicht hatte" rät Liese. Kinder mit Grund-Erkrankungen sollten unbedingt geimpft werden. "Ansonsten steht es jedem frei, sein Kind impfen zu lassen", so der Mediziner. "Die meisten Kinder- und Jugendärzte machen das und die meisten Krankenkassen übernehmen das auch."
Quelle: ntv.de
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