Religiös eingefärbt

  01 Mai 2016    Gelesen: 552
Religiös eingefärbt
Terroristen verüben ein Attentat auf einen Sikh-Tempel im Ruhrgebiet. Womöglich der erste Sprengstoffanschlag des IS auf deutschem Boden – und die Öffentlichkeit sieht lange weg. Ist das Zufall?
Ein Knall, und das bunte Treiben stockt. Der Duft von Chai-Tee und indischen Gewürzen, Blumengirlanden und Hunderte Sikh mit Kopfschmuck und traditionellen Gewändern – alles wirkt für einen Moment wie schockgefrostet. Doch das unschuldige Lachen des kleinen Jungen, der seinen Luftballon zum Platzen brachte, steckt die Menge wieder mit Freude an. Die Vorbereitungen für die große "Nagar Kirtan"-Prozession der Sikh-Gemeinde in Essen gehen weiter. Reisebusse aus ganz Deutschland fahren vor. Dutzende Polizisten kümmern sich um das Verkehrschaos. Eigentlich sind sie da, weil zwei Islamisten letzte Woche hier eine Bombe zündeten.

Der womöglich erste Sprengstoffanschlag des IS auf deutschem Boden. Drei Menschen wurden verletzt, der Priester der Sikh-Gemeinde kam nur knapp mit dem Leben davon. Der Schock steckt den Sikh in Essen noch in den Knochen. So viel mehr hätte passieren können, wenn die 200 Gäste der Hochzeit, die an diesem Samstag im Tempel stattfand, länger geblieben oder die Kinder nicht rechtzeitig ins Obergeschoss gegangen wären. Die Prozession war schon seit Monaten geplant. Jetzt wirkt sie wie eine Demonstration gegen den Terror.

Es war etwa 19 Uhr am 16. April 2016, als eine heftige Explosion die Tür des Tempels aus dem Rahmen riss, die Fenster zum Bersten brachte und die schieferverkleidete Fassade zerstörte. Nur die Flagge, die keine zwei Meter von der Tür entfernt steht und jeden Sikh-Tempel der Welt von Weitem sichtbar macht, blieb unbeschädigt. Trotzig flattert der orangefarbene Stoff, auf dem in Blau das Zeichen der Sikh prangt, im trüben Aprilhimmel.

Vom Anschlag nimmt die deutsche Öffentlichkeit anfangs kaum Notiz. Überregionale Medien werden erst darüber berichten, als klar ist, dass die Täter dem islamistischen Spektrum zuzurechnen sind. Und es wird Leute geben, die dahinter eine Verschwörung der Medien wittern, die wieder einmal etwas verheimlichen wollten. Für die Opfer werden auch sie sich nicht interessieren. Liegt es daran, dass niemand ums Leben kam? Ist ein Attentat nur von Interesse, wenn die Opfer weiß sind? Hat das Schweigen damit zu tun, dass die Glaubensgemeinschaft der Sikh in Deutschland weithin unbekannt ist? Oder haben die Ereignisse der letzten Monate tatsächlich zu Zurückhaltung in der Berichterstattung geführt?

Auf indischen Kanälen zeigt sich jedenfalls ein ganz anderes Bild. Schnell verbreitet sich die Nachricht des Sikh-Channel auf der ganzen Welt. Indische Diplomaten äußern sich, deutsche Würdenträger halten sich dagegen bedeckt. Dabei war schnell klar, dass es sich um einen Anschlag auf eine religiöse Minderheit handelt. Man stelle sich vor, die Bombe hätte eine Kirche getroffen.

Schon am Morgen nach der Tat ist von der Zerstörung am Tempel kaum mehr etwas zu erkennen. Die Glasscherben und die kaputten Schieferplatten sind bereits zum Abtransport in einen Container geräumt worden, die Tür ist verbrettert, der Platz gefegt, die Polizei hat den Tatort freigegeben. Die Sikh versuchen, die Normalität so schnell wie möglich wieder herzustellen – der Kinder wegen, wie sie gegenüber der Presse sagen, damit sie den Anschlag, den viele von ihnen miterleben mussten, schnell vergessen. Wenige Stunden nach der Explosion singen die Kinder schon wieder. Ihr Gesang schallt aus dem schmucklosen Bau hinaus auf den Hof, wo einige Gemeindemitglieder noch die letzten Spuren beseitigen.

Der Gurdwara, "das Tor zum Guru", wie die Sikh ihre Gebetshäuser nennen, befindet sich in einem Industriegebiet nördlich der Essener Innenstadt. In der Straße sind verschiedene mittelständische Unternehmen angesiedelt, gegenüber des Tempels findet sich ein Eisenwarenhandel, nebenan steht das einzige Wohnhaus weit und breit. Erst ein paar hundert Meter vom Tempel entfernt stehen einige große Wohnheime der Universität Duisburg-Essen. Die Detonation dürfte dort gut zu hören gewesen sein. Doch kaum ein Essener Student wird wissen, dass sich in Sichtweite seiner Küchenzeile ein Sikh-Tempel befindet. Die Gemeinde ist zwar schon einige Semester hier angesiedelt, doch aufgrund ihres Turbans und ihrer langen Bärte werden Sikh, deren Religion im 15. Jahrhundert in Nordindien entstanden ist, oft mit Muslimen verwechselt. Seit den Anschlägen auf das World Trade Center werden sie im Westen auch immer wieder Opfer antimuslimischer Attacken.

Karanjit Singh war, als die Bombe explodierte, gerade mit einigen Kindern ins Obergeschoss gegangen. Dort wollten sie in Ruhe traditionelle Lieder üben. Der 24-jährige Student – schwarzer Vollbart, dunkelblauer Turban, braune Hose, silberner Armreif – will seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen. Der Gemeindevorstand habe die Mitglieder gebeten, keine Interviews mehr zu geben, weil seit dem Anschlag so viel Falsches berichtet worden sei. Karanjit kommt jeden Sonntag in den Tempel nach Essen. Jetzt, vor der Nagar-Kirtan-Prozession, ist er fast täglich hier, um das große Fest vorzubereiten. Er betont, dass die Sikh friedlich seien und viel Wert auf Gleichberechtigung legten. Er gehört zur jüngeren Generation der Sikh. 13.000 Gläubige zählt die Gemeinschaft in der Bundesrepublik. Der Großteil der etwa 25 Millionen Sikh lebt nach wie vor, wo der Wanderprediger Guru Nanak die monotheistische Religion begründet hat: in Nordindien. Warum jemand etwas gegen die Sikh haben könnte oder sie sogar umbringen wollte, kann Karanjit Singh sich nicht erklären.

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