"Israels Attacke liefert der Hamas genau das, was sie braucht"

  22 Mai 2025    Gelesen: 71
  "Israels Attacke liefert der Hamas genau das, was sie braucht"

Israel überzieht den Gazastreifen mit Bomben. Die Terrormiliz Hamas wird die Armee so nicht zerstören. Fast im gleichen Maß, wie sie Leute verliert, kann sie neue Kräfte rekrutieren, radikal und voller Israel-Hass, sagt Oberst Matthias Wasinger. Was Premierminister Benjamin Netanjahu vorhat, sei militärisch nicht machbar.

ntv.de: Herr Oberst Wasinger, von Januar bis März herrschte in Gaza eine Waffenruhe, es kamen wöchentlich israelische Geiseln frei. Nun ist der Krieg zurück und aus Gaza wird berichtet, die israelischen Streitkräfte führten ihn massiver und brutaler denn je. Was passiert da gerade?

Matthias Wasinger: Zu Beginn eines Krieges werden die augenscheinlichen Ziele bekämpft. Je mehr die Kampagne fortschreitet, desto diffiziler werden die Ziele. Wir wissen, dass die Masse des Gazastreifens untertunnelt ist, im Umfang des New Yorker U-Bahn-Netzes. Durch diese Tunnel kann sich eine Armee selbst hindurch kämpfen - so haben es die Amerikaner im Vietnamkrieg gemacht. Wenn ich mich aber mit Soldaten im Erdkampf durch ein Tunnelsystem arbeite, dann gehen die eigenen Verluste drastisch nach oben. Entscheidend ist darum: Wie viele Soldaten habe ich verfügbar und wie schwere Verluste bin ich bereit zu tragen? Die israelischen Streitkräfte (IDF) haben beschlossen, nicht ausschließlich ins Tunnelsystem zu gehen, sondern es mit Bombardements zu zerstören.

Sie rechnen damit, dass die IDF die gesamte "Gaza Metro" ins Visier nehmen?

Laut Aussage der Armee hat sie mit Start der aktuellen Offensive 670 Ziele bekämpft und vernichtet. Ihr Kriegsziel ist es, die Infrastruktur der Hamas nachhaltig zu zerstören. Aber wann ist es genug? Wenn die Kommandoposten weg sind? Dann bleiben die Tunnel übrig. Wenn die großen Tunnel verschüttet sind? Dann gibt es noch kleine Tunnel. Wenn alles zerstört werden soll, dann erreicht man das mit Flächenbombardements. Meiner Bewertung nach ist anzunehmen, dass die IDF die Angriffe in dieser Vehemenz weiterführen oder noch ausweiten.

Oberst des Generalstabsdienstes Matthias Wasinger ist ein österreichischer Offizier mit Forschungsschwergewicht auf Militärstrategie. Er absolvierte Einsätze im Nahen Osten sowie am Balkan. Derzeit führt er das Jägerbataillon 24 in Tirol.

Wenn Israels Premier Benjamin Netanjahu sagt, die Hamas soll zerstört werden, und das muss das Ergebnis dieses Krieges sein: Wäre das überhaupt militärisch machbar?

Man muss davon ausgehen, dass kein Akteur bewusst einen Fehler plant. All diese Planungen sind aus militärischer Sicht offensichtlich als machbar erkannt worden in einem gewissen Rahmen. In der aktuellen Offensive "Gideons Streitwagen" führt Israel nach dem Isolieren des gesamten Raumes in allen Domänen - also Luft, Land und See - weitere Kräfte nach, vor allem Landstreitkräfte. Zunächst sah es aus, als wäre die Operation schwergewichtsmäßig im nördlichen Gazastreifen angesetzt worden. Inzwischen sehen wir, sie ist über das gesamte Gebiet verteilt und bekämpft Raketenabschussbasen, Logistikzentren, Kommandostrukturen. Nun zu Ihrer Frage: Was ist militärisch machbar?

Die Zerstörung der Hamas?

Aus militärischer Perspektive sehen wir, dass sich die Kriegsziele Israels immer mehr erweitert haben. Das anfängliche Ziel "Entmachtung der Hamas und Befreiung der Geiseln" wurde recht bald erweitert auf "Inbesitznahme und völlige Vernichtung der Hamas". Man muss im Hinterkopf behalten: Die Hamas ist nicht nur eine Terrororganisation, sondern sie ist auch eine Ideologie. Eine Ideologie lässt sich mit anderen gesamtstaatlichen Ansätzen besiegen oder vernichten, indem man ein Szenario anbietet für den Tag danach. Irgendwann wird auch dieser Krieg enden und dann muss ein glaubwürdiges und attraktives Szenario bereitstehen. Was könnte die Alternative sein? Mit der kann ich eine Ideologie bekämpfen. Militärisch besiegen lässt sie sich nicht.

Was kann Israel mit seiner Offensive erreichen?

Sehr erfolgreich haben die IDF bis dato die Führung der Hamas bekämpft. Die obersten zwei Ebenen der militärischen Hamas-Führung sind vernichtet worden, das hat gut funktioniert. Nun gibt es keine genauen Zahlen, aber am 7. Oktober, zu Beginn des Krieges, wird die Terrorgruppe eine Stärke von etwa 23.000 Kämpfern gehabt haben. So lauten die Schätzungen. Die IDF melden aktuell, sie hätten rund 20.000 davon vernichtet. Unwahrscheinlich, dass diese Zahl stimmt, aber selbst wenn: Es wird angenommen, dass die Hamas im selben Zeitraum bis zu 15.000 neue Kämpfer rekrutiert hat. Aufgrund der israelischen Angriffe.

Moment, dann hätte die Hamas schon wieder etwa 18.000 Kämpfer beisammen?

Wie gesagt, die Zahlen sind vage, aber: ja. Das ist genau der Punkt. Schätzungen schreiben der Hamas aktuell eine Stärke von etwa 20.000 Kämpfern zu. Versuchen Sie, einen Pudding an die Wand zu nageln. Es wird nicht gelingen. Und der Hamas kommen Sie ausschließlich militärisch nicht bei, weil sie eine Ideologie verkörpert. Weil die Radikalisierung der Bevölkerung mit dem Krieg einhergeht. Zudem, so ehrlich muss man auch sein, hat die Terrorgruppe in der Vergangenheit auch Sozialleistungen bereitgestellt. Sie wollte als attraktiver Akteur dastehen und hat zugleich den Dschihad, den Heiligen Krieg, als machbares Mittel gegen das subjektiv empfundene Unrecht gepriesen.

Wie schwer wiegt das Vorgehen der IDF in den vergangenen Monaten als Argument für die Rekrutierung?

Die Vorgehensweise der IDF war in der Proportionalität zunehmend fraglich. Sie ist zunehmend schwer zu rechtfertigen. Zugleich führt sie dazu, dass das Pendel viel stärker ausschlägt. Sie rechtfertigt, sie nährt das Narrativ der Hamas, dass diese einen heiligen Krieg führt. Das hilft enorm bei der Rekrutierung. Und betrachten Sie auch die Demografie: 50 Prozent der Bevölkerung sind junge Leute. Das ist nicht das Rekrutierungspotential, das wir aus Europa kennen. Dieser Pool ist enorm groß. Die IDF liefern genau das, was die Hamas gerade braucht. Sie ist mit Blick auf die Masse in Wahrheit unverändert stark.

Vor drei Tagen sagte Netanjahu, Israel wolle den Gazastreifen komplett und auch längerfristig kontrollieren. Kann man so die Hamas zumindest in Schach halten?

Wenn wir mal ein deutsches Äquivalent zum Gazastreifen bemühen, so ist das größenmäßig die Stadt Bremen. Dazu kommen zwei Millionen Einwohner. Angesichts des Bedrohungspotentials für Israel kommt man bei dem Ansinnen, ganz Bremen kontrollieren zu wollen, auf einen Bedarf von 80.000 bis 100.000 Soldatinnen und Soldaten. Das lässt sich natürlich mit Technologie etwas substituieren, mit Drohnenüberwachung, mit Aufklärung, die von den Amerikanern bereitgestellt wird. Aber es wird nicht drastisch runtergehen. Gerade im Tunnelsystem wird man sich schwertun mit unbemannten Systemen. Da braucht es boots on the ground.

Bei den 100.000 ist jetzt aber die Rotation schon eingerechnet, oder? Bei solch einer Mission haben Sie ja zeitgleich ein Drittel der Kräfte im Einsatz, ein Drittel in der Vorbereitung, ein Drittel in der Regeneration. Die sind da mit drin?

Nein, das sind nur die Streitkräfte im Einsatz. Wenn Sie das System durchhaltefähig gestalten wollen, brauchen Sie die dreifache Zahl, 100.000 mal drei. 300.000 israelische Soldatinnen und Soldaten, um den Gazastreifen zu kontrollieren.

Dauerhaft 300.000 Streitkräfte - bei knapp zehn Millionen Einwohnern klingt das nach einer enormen Herausforderung für Israel.

Genau, aber wir sprechen hier von zwei Millionen Palästinensern, die aus Sicht der IDF nahezu alle eine potenzielle Gefährdung darstellen. Wir sehen ja auch die Aufklärungsergebnisse aus der Zeit vor dem Massaker am 7. Oktober 2023. Damals sind täglich etwa 20.000 Palästinenser durch den Zaun zum Arbeiten nach Israel gekommen. Man nimmt an, dass diese Menschen die Aufstellung der Überwachungstürme und andere Informationen an die Hamas gemeldet haben. Aus Sicht Israels ist das ein unglaubliches Bedrohungspotenzial. Entsprechend braucht man die Überwachung dazu. Und jetzt kommen wir zum big picture, zum Panorama. Israel sagt von sich selbst, es führe einen Sieben-Fronten-Krieg.

In Gaza, in der Westbank, gegen den Libanon, gegen Syrien, den Iran ….

Über das Rote Meer gibt es noch den Jemen und den Kampf um die innere Sicherheit. Auch im eigenen Land müssen die Israelis permanent mit subversiven Attacken rechnen. Sieben Fronten also. Wenn ich jetzt die Kontrolle über Gaza durchhaltefähig machen will, brauche ich dort 300.000 Streitkräfte und lege darüber das Wehrpotential Israels: Das sind 170.000 Männer und Frauen als stehende Streitkräfte. Dazu maximal 400.000 Reservisten, die ich noch einberufen könnte. Das kommt mathematisch nicht hin. Sieben Fronten und dauerhaft ein Schwergewicht auf dem Gazastreifen - das ist nicht machbar.

Was Netanjahu ankündigt, ist nicht machbar?

Genau. Ein weiterer Punkt kommt hinzu. Die einberufenen Reservisten fehlen auf dem Arbeitsmarkt. Das stellt auf lange Sicht das Durchhaltevermögen des Staates in Frage. Diesen wirtschaftlichen Einbruch kann man mit Geld nicht substituieren. Auch die engsten Verbündeten können das nicht. Jetzt kommen wir wieder zur Kriegsrhetorik: Netanjahu hat gesagt, dann entvölkern wir, dann sollen die Palästinenser den Gazastreifen verlassen. Wenn also alle Palästinenser aus dem Gazastreifen hinausgedrängt werden, dann reduziert sich der Bedarf an Soldaten drastisch. Dann würde das machbar. Das ist die militärische Ebene. Nun legen wir die rechtliche drüber. Entvölkerung bedeutet Rechtsbruch.

Das schon, aber Rechtsbruch begeht Israel auch fortwährend mit weiteren Siedlungen im Westjordanland. Ist das für Sie trotzdem gesetzt, dass Israel diesen Schritt nicht gehen würde?

Ich denke, es sind dennoch zwei ganz unterschiedliche Level. Der aggressive Siedlungsbau in der Westbank bricht Völkerrecht und nutzt die Tatsache, dass alle Augen derzeit auf Gaza gerichtet sind. Aber es sind unterschiedliche Eskalationsstufen, ob ich illegale Siedlungen erweitere oder zwei Millionen Menschen faktisch deportiere. Zumal: Wohin sollten diese zwei Millionen gebracht werden? Ägypten sagt Nein, Jordanien sagt Nein, auch Syrien und der Libanon sind nicht bereit. Da kommt dann auch die Macht des Faktischen ins Spiel. Siedlungsbau ist nicht rechtens, aber faktisch möglich. Deportation von zwei Millionen Menschen? Unmöglich.

Dennoch ein Gedankenspiel mit Blick auf die lange Blockade gegen Hilfslieferungen: Wenn die Strategie der israelischen Regierung sein sollte, die Menschen in Gaza so lange darben zu lassen, bis sie freiwillig gehen. Bis sie sagen, wir steigen auf dieses Schiff, um des nackten Überlebens willen - wäre das dann keine Deportation?

Ein solches Agieren wäre gegen jedwedes Recht und gegen jedwede Norm. Dennoch erleben wir das aktuell. Der Hunger wird als Waffe eingesetzt. Es werden Lebensmittel als Waffe eingesetzt. Zugleich sehen wir bei den Palästinensern keinerlei Drang zu sagen, wir gehen hier raus. Was es stattdessen bewirkt, haben wir eben schon besprochen. Radikalisierung. Jetzt erst recht. Den Dschihad durchziehen, den Staat Israel auslöschen. Nehmen wir mal das Gedankenspiel und stellen uns vor, logistisch wäre das alles machbar. Zwei Millionen Menschen steigen "freiwillig" auf die Schiffe nach Libyen. Der Glaube, mit diesem Schritt wäre das Problem gelöst, ist ein Irrglaube. Diese Menschen würden sich restlos radikalisieren und jede Möglichkeit nutzen, um zurückzukommen. Die israelische Armee soll der Regierung als militärische Beratungsleistung mit auf den Weg gegeben haben, dass das funktioniert? Das kann ich mir nicht vorstellen. Das ist Kriegsrhetorik von Premier Netanjahu.

Mit Matthias Wasinger sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de


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