Doch in die heiligen Hallen hat sich ein Quälgeist mitgeschlichen: Recep Tayyip Erdogan. Der türkische Präsident drängte am Vorabend überraschend seinen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu zum Rückzug. Der jedoch war der Architekt des EU-Türkei-Abkommens.
Die Frage, die Merkel und die mitgereisten Spitzenbeamten aus ihrem Kanzleramt im Vatikan wirklich beschäftigt, lautet: Gilt der Deal noch? Ist Erdogan weiter bereit, die Flüchtling zurückzuhalten? Damit steht und fällt nicht weniger als Merkels Politik der offenen Grenze. Selbst im Umfeld der Kanzlerin wird seit dieser Woche nicht mehr ausgeschlossen, dass Erdogan den Deal doch noch zum Platzen bringt. Als der Papst ihr nach einer dreißigminütigen Privataudienz zum Abschied eine Plakette mit einem Schutzengel schenkt, antwortet Merkel: "Das ist etwas, was man gerade gut gebrauchen kann."
Die Bundeskanzlerin als Beutestück.
Merkel hat nicht erzählt, ob sie Davutoglu eine persönliche SMS zu seinem erzwungenen Abschied geschickt hat. Wahrscheinlich ist es aber. Denn die Kanzlerin hat den Politikprofessor, der neben Arabisch und Englisch auch Deutsch spricht, in den letzten Monaten in den Kreis ihrer Vertrauten aufgenommen, mit denen sie bevorzugt über Kurznachrichten kommuniziert. Tatsächlich hätte es ohne Davutoglu wohl nie einen EU-Türkei-Deal gegeben. Er war es, der im vergangenen September in einem Gastbeitrag für die "FAZ" zum ersten Mal eine "gemeinsame Lösung" zum Preis einer "Lastenteilung" anbot – nur fünf Tage nach der spektakulären Nacht der Grenzöffnung.
Erdogan hingegen bot nichts an. Im Gegenteil: Er forderte – und zwar eine Unterwerfungsgeste. Die liefert Merkel im Oktober, als sie sich zwei Wochen vor der türkischen Parlamentswahl von Erdogan im Istanbuler Yildiz-Palast wie ein Beutestück präsentieren lässt. Das fleischgewordene Versprechen der Visa-Freiheit an die eigentlich zunehmend Erdogan-skeptische türkische Mittelschicht wirkt: Seine islamistische AKP gewinnt zwei Wochen später die absolute Mehrheit im Parlament zurück.
Dennoch finden der türkische Islamist und die deutsche Physikerin auch seitdem keine vernünftige Gesprächsebene. Er kann ihr vergangene Demütigungen einfach nicht verzeihen. Denn es war Merkel, die vor der Flüchtlingskrise zehn Jahre lang alles dafür tat, die Türkei aus der EU herauszuhalten. Noch als Erdogan 2013 den "türkischen Frühling" im Istanbuler Gezi-Park gewaltsam beenden lässt, kritisiert ihn kein westlicher Politiker heftiger als Merkel.
Achse Ankara-Berlin.
Die Verhandlungen zum EU-Türkei-Abkommen verlaufen deshalb lange stockend, bis Merkel Davutoglu entdeckt. Die Kanzlerin schickt dafür extra ihren Kanzleramtschef Peter Altmaier in geheimer Mission nach Ankara. Der umgeht Erdogans Präsidialverwaltung und kommt direkt mit den Fachpolitikern ins Gespräch, die sich am Ministerpräsidenten orientieren. Dieser Teil der AKP-Elite erkennt, dass er von Deutschland mehr bekommen kann als nur viel Geld und symbolische Triumphe.
Davutoglu verspricht sich besonders viel von Berlin. Der ehemalige Außenminister ist der Architekt der neoosmanischen Außenpolitik der Türkei, die statt einer einseitigen Westbindung und einer Orientierung hin zur Nato-Vormacht USA auf eine multidimensionale Außenpolitik setzt.
Diese Politik steckt mit dem Krieg in Syrien und dem türkischen Streit mit Russland in der Krise – und dankbar ergreift Davutoglu die Chance, etwas Neues zu probieren: Er will eine echte Achse Ankara-Berlin schmieden.
Neustart zu Ankaras Bedingungen.
Davutoglu nimmt Altmaier sogar mit zum Jahrestreffen der türkischen Botschafter in Ankara – und stellt den Deutschen den dort versammelten Spitzendiplomaten als neuen Hauptverbündeten der Türkei vor. Altmaier fallen vor allem die Botschafterinnen auf. Selbstbewusste Frauen, die ganz selbstverständlich kein Kopftuch tragen. Die Botschaft, es gibt immer noch eine Türkei jenseits von Erdogan, nimmt er mit nach Berlin.
Auf der EU-Ebene wird dieser Ansatz, auf die türkische Arbeitsebene zu setzten, kopiert: Während der EU-Ratspräsident Donald Tusk und der Kommissionschef Jean-Claude Juncker ähnlich wie Merkel bei ihren Gesprächen mit Präsident Erdogan frustriert werden, gelingt es dem Vize-Kommissionschef Frans Timmermans ein Vertrauensverhältnis zu Davutoglu aufzubauen. Doch der niederländische Sozialdemokrat merkt rasch, dass es den Türken weniger um Aufmerksamkeit aus Brüssel geht als um solche aus Berlin.
Deshalb wird Davutoglu dort im Januar auch mit so großem Bahnhof empfangen wie sonst nur Großmächte oder engste Verbündete: Für "Regierungskonsultationen" reist er gleich mit mehreren Ministern an. Was er im Kanzleramt und den Ministerien verhandelt und in zahlreichen "MoU" (Memorandum of Understanding) und "LoI" (Letter of Intent) festhält, kommt dann tatsächlich einem kompletten Neustart der deutsch-türkischen Beziehungen gleich – allerdings zu Ankaras Bedingungen.
Türkischstämmiger Referatsleiter wird als Zuständiger ernannt.
Die Bundesregierung geht damals so weit, ihre interne Organisationsstruktur umzubauen, um sie türkischen Wünschen anzupassen. Mit den Türken wird nämlich ein "neuer gemeinsamer Mechanismus in der Bekämpfung des Terrorismus" vereinbart und mit Sinan Selen sogar ein türkischstämmiger Referatsleiter aus dem Bundesinnenministerium als Zuständiger ernannt. Offiziell wird Selen zum "Sherpa" befördert. So heißen in der internationalen Diplomatie die mit voller Prokura ausgestatteten Verhandlungsführer vor Gipfeln, die direkt den Regierungschefs zuarbeiten. Selen ist ein erfahrener Beamter, der vor allem im Bereich der organisierten Kriminalität gearbeitet hat; aber das für ihn ein solch exponierter Posten geschaffen wird, hat nur einen Grund: Die Türken sollen zumindest glauben, künftig mit einem der ihren zu sprechen, wenn sie mit der Bundesregierung über Terrorbekämpfung verhandeln.
Nun nehmen auch die Verhandlungen der EU mit der Türkei Fahrt auf. Als Davutoglu den EU-Rat im März mit einem sehr weitgehenden Vorschlag überrascht, glauben die anderen Europäer sogar, Merkel habe ihm den Stift geführt. Aber sie unterschreiben schließlich doch. Die Türkei nimmt alle Flüchtlinge zurück, dafür fliegt die EU Syrer direkt aus der Türkei aus. Da zeitgleich die Balkanroute an der griechisch-mazedonischen Grenze geschlossen wird, kommen jetzt kaum noch Migranten über die Ägäis.
Aber der Preis ist hoch. Sechs Milliarden Euro will die EU in der Türkei investieren – für Flüchtlingsprojekte. Die Beitrittsverhandlungen werden wieder ernsthaft aufgenommen. Und türkische Staatsbürger sollen schon im Sommer ohne Visum nach Europa kommen dürfen. Dafür muss die Türkei 72 Bedingungen erfüllen – neben technischen Anforderungen wie biometrischen Pässen, die es in der Türkei immer noch nicht gibt, geht es dabei auch um politisch Heikles: Korruptionsbekämpfung, Unabhängigkeit der Justiz, Datenschutz und Anti-Terror-Gesetze.
"Ihr geht euren Weg, wir gehen unseren".
Hier ist das politische und moralische Herz der EU berührt. Bisher muss sich von Serbien bis zur Ukraine jedes Land demokratischen und rechtsstaatlichen Zuständen zumindest annähern, wenn es an die EU heranrücken will. Diese Bereitschaft haben die EU-Kommission und das Berliner Kanzleramt auch Davutoglu unterstellt. Um den Flüchtlingsdeal nicht zu gefährden, will man in Brüssel nicht so genau hinschauen – das ist die informelle Abmachung zwischen allen Beteiligten. Doch mit der Ablösung Davutoglus demonstriert Erdogan geradezu öffentlich, dass er diesen Weg eben nicht gehen will.
Während Merkel am Freitag noch auf dem Rückflug von Rom ist, erreichen sie die nächsten schlechten Nachrichten aus der Türkei. In einer vom Fernsehen übertragenen Rede kündigt Erdogan ein Referendum über eine Verfassungsänderung für ein Präsidialsystem an, das die demokratische Kontrolle seiner Macht weiter erschweren würde. Die umstrittenen Anti-Terror-Gesetze, nach denen in der Türkei auch Journalisten, Intellektuelle und Künstler abgeurteilt werden, werde er hingegen nicht verändern – obwohl dies eine der Bedingungen für die Visa-Liberalisierung ist. "Ihr geht euren Weg, wir gehen unseren", mit diesen Worten erteilte Erdogan der EU eine direkte Absage.
Erdogan scheint die Logik der Annäherung an die EU in der Flüchtlingskrise geradezu umzukehren. Da er meint, am längeren Hebel zu sitzen, nimmt er auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit keine Rücksicht mehr. Wie eine autokratische Türkei unter Erdogan aussehen könnte, zeigte sich am Abend dieses schwarzen Freitags. Vor der Gerichtsverhandlung über den von Erdogan angezeigten Chefredakteur der Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar, wird ein Attentat auf den Journalisten verübt. "Du bist ein Vaterlandsverräter" schreit ein Attentäter und schießt zweimal auf den Chefredakteur. Eine Kugel geht fehl, eine streift das Opfer nur.
Schäuble will den Deal um jeden Preis.
Vor dem Prozess hatte Erdogan angekündigt, einen eventuellen Freispruch nicht zu akzeptieren. Dündars Zeitung hatte über Verbindungen des türkischen Geheimdienstes zur Terrorgruppe "Islamischer Staat" berichtet. Trotz des Attentatsversuchs verurteilte das Gericht Dündar und einen mitangeklagten Kollegen zu jeweils über fünf Jahren Gefängnis. Eine öffentliche Reaktion der Bundesregierung gibt es nicht.
Kein Wunder: Für Merkel kommt dies alles zur Unzeit. Der Türkei-Deal ist der unpopulärste Teil ihrer Flüchtlingspolitik. 62 Prozent der Deutschen waren schon vor Davutoglus angekündigtem Rückzug gegen eine Aufhebung der Visa-Pflicht für türkische Bürger. Die Opposition, aber auch einflussreiche Politiker den Regierungsfraktionen und sogar die CDU-Außenpolitiker beginnen, ihre Skepsis öffentlich zu machen; bislang wurde sie nur hinter verschlossenen Türen artikuliert.
Schon im Februar warnten auch Abgeordnete, die prinzipiell hinter der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin stehen, in einer Fraktionssitzung davor, sich in zu große Abhängigkeit von der Türkei zu begeben. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen, soll damals argumentiert haben, Erdogan habe die Flüchtlingspolitik als neues Instrument entdeckt, das er sich nicht abkaufen lassen werde, weil er es noch oft nutzen wolle. Damals war es Finanzminister Wolfgang Schäuble, der die Debatte mit einer kategorischen Ansage beendete: Man brauche den Flüchtlingsdeal – "whatever it takes", zu jedem Preis.
Mit großer Sorge sieht man in der Führung der Koalitionsfraktionen dem 2. Juni entgegen. Dann soll der Bundestag eine Resolution beschließen, die den Völkermord an den christlichen Armeniern im Osmanischen Reich 1915 zum ersten Mal als einen solchen benennt. Nachdem das Parlament vor der Flüchtlingskrise dies bereits in erster Lesung beschloss, wurde die Wiedervorlage wegen des Türkei-Deals verschoben.
Obwohl die Türkei auf allen diplomatischen Kanälen dagegenarbeitet, ist der Bundestag zumindest bisher nicht bereit, ein weiteres Mal nachzugeben. Im Land der Schoa und der Vergangenheitsbewältigung, so glaubt man, kann man Erdogan nicht auch noch die Geschichtspolitik überlassen.
Quelle : welt.de
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