Nun sitzt Radner am Schreibtisch seines Büros, spricht über seinen Kampf um die Wahrheit. Wie jeden Tag schaut er unzählige Male auf das Foto seiner Tochter. "Darf ich rauchen?", fragt der Mann mit dem furchigem John-Wayne-Gesicht freundlich und zündet sich eine Zigarette an.
"Ich habe mich ins Leben zurückgekämpft", sagt er. Und sehr entschlossen berichtet er von seinen Recherchen um den Copiloten des Germanwings-Fluges, Andreas Lubitz, der seine Maschine auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf in den Alpen gegen einen Berg steuerte und 149 Passagiere mit in den Tod riss.
Wie nach der Katastrophe bekannt wurde, hatte der Massenmörder schwere psychische Probleme und war 2008 – noch vor seiner Zeit als angestellter Pilot – wegen einer Depression monatelang krankgeschrieben gewesen. Warum durfte er dennoch ins Cockpit? Erst, wenn Radner die Antwort kennt, wird er vielleicht etwas Ruhe finden.
Niemand hinderte Andreas Lubitz offenbar daran, Pilot eines Verkehrsflugzeuges zu werden. Stattdessen erhielt Lubitz im Jahr 2009 eine Sondergenehmigung der Fliegerärzte der Lufthansa, die den damals 21-Jährigen aus dem rheinland-pfälzischen Montabaur für tauglich befand. Klaus Radner hat daraufhin Strafanzeige gegen den flugmedizinischen Dienst der Lufthansa und Verantwortliche des Luftfahrtbundesamtes (LBA) bei der Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main gestellt. Er erhebt schwere Vorwürfe, etwa, dass Lubitz rein rechtlich ohne eine gültige Lizenz geflogen sei. Die Staatsanwaltschaft bestätigte den Eingang der Anzeige. Die Unterlagen würden gesichtet, heißt es.
"Hätten die Flugmediziner und Gutachter sich an das jeweils geltende Recht gehalten, hätte die Katastrophe nicht stattgefunden", schreibt Radner in dem Papier, das der "Welt am Sonntag" vorliegt. Für ihn komme beispielsweise der Straftatbestand der fahrlässigen Tötung in Betracht. Und wie ein Hohn muss ihm, dem akribischen Rechercheur, wohl manches vorkommen, was er in der Zeit seit dem Absturz herausgefunden hat.
Da ist zum Beispiel dieses Schriftstück von Ende Juli 2009, eine Art Glückwunsch an den Piloten Lubitz – oder eine Adelung. Da erhielt Lubitz vom Leiter des Aeromedical Center der Lufthansa sein Fliegertauglichkeitszeugnis. "Wir wünschen allzeit `happy landings`", heißt es. Ein Satz, der damals sicherlich nett gemeint war und doch heute nur noch zynisch wirkt.
Klaus Radner geht es, wie er sagt, bei seinen Nachforschungen und Anklagen nicht darum, möglichst viel Geld als Entschädigung zu bekommen. Er will Gerechtigkeit für seine Tochter Maria, ihren Lebensgefährten Sascha Schenk und seinen Enkel Felix.
Niemals wird er den Tag vergessen, als er vom Absturz der Germanwings-Maschine erfuhr. "Als ich im Fernsehen die Eilmeldung sah, dachte ich, wie schrecklich diese Nachricht für die Angehörigen sein muss. Erst später, als ich den ausführlichen Bericht im Autoradio hörte, wurde mir klar, dass meine Tochter mit ihrer Familie in der Maschine saß."
Maria Radner war eine erfolgreiche Opernsängerin, die an den großen Häusern in New York, Mailand und London auftrat. In Barcelona hatte sie in Richard Wagners "Siegfried" gesungen und noch am Vortag des Absturzes ein Foto an ihren Vater gesendet. "Um den Schmerz ertragen zu können, brauchte ich die Hilfe von Psychologen", sagt Radner. Seine zweite Frau und seine Brüder seien ein großer Halt in dieser schweren Phase.
Dreh- und Angelpunkt: die Sondergenehmigung für Lubitz
Akribisch hat Radner mit dem Juristen Klaus Brodbeck die Ermittlungsakte der französischen Staatsanwaltschaft zum Germanwings-Absturz ausgewertet und mutmaßlich schwere Versäumnisse bei den Mitarbeitern der Aeromedical Center der Lufthansa und des Luftfahrtbundesamtes ausgemacht.
Auf 15 Seiten und mit zahlreichen Anlagen begründen sie in der Strafanzeige, wo nach ihrer Bewertung gravierende Fehler bei der Begutachtung von Lubitz durch die Fliegerärzte unterliefen und wo die Kontrolle durch die Aufsichtsbehörde Luftfahrtbundesamt mangelhaft war. Weder die Lufthansa noch das LBA wollten einen umfassenden Fragenkatalog dieser Zeitung beantworten. Die Lufthansa verwies auf das laufende Todesermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Düsseldorf.
Ein Dreh- und Angelpunkt der Strafanzeige ist eben jene Sondergenehmigung der Lufthansa vom 29. Juli 2009. In dem Dokument heißt es, dass nach einer Überprüfung der Tauglichkeit in besonderen Fällen Lubitz sein Fliegertauglichkeitszeugnis und die mit der Lizenz verbundene Sondergenehmigung erhält. Diese Sondergenehmigung hätte laut Radner jedoch nur das Luftfahrtbundesamt erlassen dürfen. Und die Erteilung der Fluglizenz hätte sowieso der Zustimmung des LBA bedurft. Damit sei Lubitz ohne gültige Fluglizenz geflogen, so der Vorwurf von Radner.
Zudem geht aus den Akten hervor, dass Lubitz die Tauglichkeit noch zwei Wochen zuvor verweigert worden war. Am 14. Juli 2009 attestierte ein Flugmediziner des Aeromedical Center in Frankfurt am Main die Fluguntauglichkeit von Lubitz. Dies wurde auch dem LBA mitgeteilt. Wörtlich hieß es: "Aus Ihren Angaben im Antragsformular und der Tauglichkeitsuntersuchung am 14. 07. 2009 ergibt sich, dass Sie die für das erstrebte flugmedizinische Tauglichkeitszeugnis geltenden Tauglichkeitsanforderungen nicht erfüllen."
Wie konnte so ein Mensch für flugtauglich befunden werden?
Radner ist bis heute fassungslos darüber, dass noch am selben Tag ein psychologischer Gutachter des medizinischen Dienstes der Lufthansa trotzdem die Flugtauglichkeit empfahl. In seinem Befund, den er einen Tag später erstellte, stützt er sich auf Angaben des behandelnden Nervenarztes und des Psychotherapeuten, die gute Prognosen und ein Absetzen der Medikamente attestiert hätten. Daraufhin erhielt Lubitz das Tauglichkeitszeugnis.
"Bei einer so schweren psychischen Vorerkrankung, die lange Zeit zu einer Verweigerung des Tauglichkeitszeugnisses geführt hat, hätte sehr sorgfältig geprüft werden müssen", argumentiert Jurist Brodbeck. "Aber in diesem Fall wurde innerhalb eines Tages aus einer Verweigerung eine Empfehlung. Das ist nur schwer nachvollziehbar."
Tatsächlich geht auch aus den Dokumenten der französischen Staatsanwaltschaft hervor, dass Lubitz während seiner Depression immer wieder Suizidgedanken hatte. So notierte sein Psychologe am 28. November 2008: "Weiter schwere Depressivität, Hoffnungslosigkeit, wiederholte Äußerung über sich aufdrängende Suizidgedanken, Einengung der Gedanken."
Für Mediziner, mit denen die "Welt am Sonntag" sprach, ist damit klar, dass gerade im Fall Lubitz unter Einbeziehung des Luftfahrtbundesamtes hätte engmaschig kontrolliert werden müssen. "So wie es bei jedem im öffentlichen Transport tätigen Menschen Usus ist", sagt ein Arzt, der als Flugmediziner gearbeitet hat. Auch aus Sicht einiger europäischer Flugmediziner, die dieselben Vorschriften befolgen müssen und die sich gegenüber dieser Zeitung äußerten, haben ihre deutsche Kollegen gegen geltendes Recht verstoßen. Dass Lubitz im Jahr 2009 die Flugtauglichkeit bescheinigt wurde, sei ein Fehler gewesen, erklärten sie.
Obwohl Lubitz` schwere Erkrankung bekannt gewesen sei, führt Radner denn auch in seiner Strafanzeige aus, seien keine psychologischen Untersuchungen durchgeführt worden. Der Vater der getöteten Opernsängerin kritisiert außerdem, dass es keine vollständige Dokumentation der durchgeführten Befragungen, der Labor- und der Untersuchungsergebnisse gegeben habe – und konstatiert ein Organisationsversagen sowohl bei der Lufthansa als auch beim LBA. "Es geht hier nicht nur um das Ausstellen falscher Zeugnisse, sondern um ein systematisch gemeinschaftliches gesetzwidriges Verhalten der Gutachter und Verantwortlichen über einen Zeitraum von sechs Jahren", schreibt er.
Versäumnisse schon während der Ausbildung?
Derzeit wird auch in den USA geprüft, ob im Fall des Germanwings-Piloten Andreas Lubitz Fehler gemacht wurden. Mehr als 80 Familien, darunter auch die von Radner, haben die Flugschule der Lufthansa im US-Bundesstaat Arizona verklagt. Lubitz war hier von November 2010 bis März 2011 ausgebildet worden.
Laut Klageschrift habe das Trainingszentrum den in der medizinischen Bescheinigung stehenden Hinweis auf die psychischen Probleme nicht beachtet. Radner kann nicht verstehen, dass im Fall eines Piloten, der schon mehrfach Suizidgedanken geäußert hatte, nicht alle Alarmglocken schrillten.
Bei Einhaltung der Gesetze und Verordnungen wäre dieser Massenmord vermeidbar gewesen, schreibt Radner in seiner Strafanzeige. Und endet mit den Worten: "Maria, Felix und Sascha und 146 weitere Opfer würden heute noch leben!"
Quelle : welt.de
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