Die Grundsatzentscheidung zu diesem Vorgehen fiel nach Angaben von Insidern bereits vergangene Woche im Kreis der Fraktionschefs und damit auf höchster Ebene des Parlaments. Es gebe eine "klare Vereinbarung" zwischen den Sozialdemokraten, den Konservativen und den Liberalen, hieß es: Sollte sich an der harten Haltung Ankaras nichts ändern, könne es keine Visumfreiheit geben. Dem Vernehmen teilen auch die Grünen und die Linken diese Position.
Die Ankündigung des Parlaments ist brisant, denn ohne seine Zustimmung gibt es keine Visumfreiheit. Wenn der Libe-Ausschuss die Beschlussvorlage nicht berät und ins Plenum einbringt, kann das Parlament nicht darüber abstimmen.
Heftiger Streit um Anti-Terror-Gesetz
Zugleich drängt die Zeit: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat mehrfach gedroht, den Flüchtlingsdeal mit der EU platzen zu lassen, sollte die Visumfreiheit nicht Anfang Juli stehen. Dafür muss die EU-Kommission zunächst alle 72 Kriterien für erfüllt erklären, danach muss der Rat der EU-Staats- und Regierungschefs zustimmen. Anschließend geht das Gesetz ins EU-Parlament, was nach aktuellem Stand für Anfang Juli geplant ist.
"Es wird keine Beratungen über die Visaliberalisierung geben, bevor nicht die 72 Punkte erledigt sind", erklärte jedoch Manfred Weber (CSU), Vorsitzender der konservativen EVP-Fraktion. Schließlich habe sich die Türkei dazu verpflichtet. Erdogan müsse jetzt klarstellen, "dass er vollumfänglich zu dieser Vereinbarung steht", so Weber.
Die wichtigste noch nicht erfüllte EU-Forderung ist die Änderung des Anti-Terror-Gesetzes, das in der Türkei auch zur Unterdrückung von Minderheiten, Oppositionspolitikern und Journalisten eingesetzt wird. Erdogan hat jedoch zuletzt betont, dass er zu keinerlei Änderung am Anti-Terror-Gesetz bereit ist. "Falls er an dieser Haltung nichts ändert, kann das Europaparlament die Visafreiheit nicht beschließen", sagt Birgit Sippel, Koordinatorin der Sozialdemokraten im Libe-Ausschuss. "Wir würden uns sonst komplett unglaubwürdig machen."
"Dann wäre die Visafreiheit erstmal geplatzt"
Zwar sei niemand an einer weiteren Eskalation interessiert, heißt es im Straßburger Parlament - und es gebe die Hoffnung, dass EU und Türkei sich doch noch einigen werden. Dennoch kann der Flüchtlingsdeal an der Visumfrage scheitern: Beide Seiten haben sich öffentlich so klar festgelegt, dass ein Ausweg ohne Gesichtsverlust nur noch schwer vorstellbar erscheint. "Man muss der türkischen Regierung zeigen, dass man sich nicht alles gefallen lässt", sagte der Grünen-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht, stellvertretender Vorsitzender des Libe-Ausschusses.
Erschwerend kommt hinzu, dass das Europaparlament - obwohl es bei der Visumfreiheit mitentscheidet - an den bisherigen Verhandlungen zwischen EU-Kommission, den Staats- und Regierungschefs und der Türkei kaum beteiligt wurde. "Das hat für Verstimmung gesorgt", so Albrecht.
Erdogans hartes Vorgehen gegen Kritiker nicht nur in der Türkei, sondern auch in anderen Ländern wie etwa in Deutschland, stieß in dieser Atmosphäre dann auf besonders geringes Verständnis. Die Aussage des türkischen Präsidenten, er werde das Anti-Terror-Gesetz nicht ändern, habe man als "Kampfansage" verstanden, sagt SPD-Politikerin Sippel. Sollte Erdogan nicht einlenken, "wäre die Visafreiheit erst mal geplatzt".
Zusammengefasst: Die Visumfreiheit für Türken gilt als die wichtigste Gegenleistung der EU für die Hilfe Ankaras in der Flüchtlingskrise. Der türkische Präsident Erdogan hat gedroht, den Deal platzen zu lassen, sollte er die Visumfreiheit nicht bekommen. Doch er lehnt es inzwischen ab, wichtige Kriterien zu erfüllen, auf die sich die Türkei verpflichtet hat. Das Europaparlament, das der Visumfreiheit zustimmen muss, droht deshalb jetzt mit einer Blockade.
Quelle: spiegel.de
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