Machtkampf in Brasilien: Das Ende der Holzgesichter

  11 Mai 2016    Gelesen: 734
Machtkampf in Brasilien: Das Ende der Holzgesichter
Brasiliens Präsidentin Rousseff soll des Amtes enthoben werden, dann doch nicht, dann doch wieder. Die Polit-Elite verliert sich in Machtspielen, während die Wirtschaft tiefer in die Krise rutscht.
Holzgesicht. Cara de pau. So nennen die Brasilianer jene, die schamlos handeln und dabei keine Miene verziehen. In Brasilien machen die Holzgesichter gerne Politik. Mit Machtspielen und Gefälligkeiten regieren sie das Land, besetzen wichtige Posten. Doch sicher sind sie nicht mehr. Die Justiz verfolgt korrupte Unternehmer und Politiker, ein Skandal jagt den nächsten. Die Mienen sind plötzlich nicht mehr so reglos.

Ausgerechnet jene Frau, die nicht mitgeklüngelt hat und der keine Korruption vorgeworfen wird, soll nun des Amtes enthoben werden. Der Senat wird am Mittwoch voraussichtlich für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff stimmen, und das nach einem bizarren politischen Drama. Ist das gerecht - oder richtig?
Land der Gegensätze

Die Studentin sagt: Was hier passiert, ist ein Putsch gegen die Präsidentin. Der Demonstrant sagt: Die Menschen sind unglaublich unzufrieden, sie haben diese Regierung satt. Der Bürgermeister von Rio de Janeiro sagt: Dilma ist politisch unfähig und kann keine Brücken zu den Menschen bauen. Der Fischer sagt: Die ganze politische Klasse ist eine Schande für unser Land. Der Wirtschaftsexperte sagt: Brasilien braucht einen neuen Geist.

Die eine Antwort gibt es nicht in diesem Land. Lebensfreude und Perspektivlosigkeit, unverputzte Baracken und luxuriöse Hochhäuser, der Wunsch nach Wandel und Beharrungsvermögen, all das existiert nebeneinander. Und so hat jeder seinen eigenen Blick auf die Misere.

Das Land steckt in einer schweren Wirtschaftskrise, elf Millionen Menschen sind arbeitslos, die Quote steigt seit zwei Jahren. Ökonomen machen Rousseff verantwortlich für verschleppte Reformen. Und vieles von dem, was die Demonstranten vor der Weltmeisterschaft gefordert haben, ist bisher nicht umgesetzt worden: bessere Gesundheitsversorgung, bessere Bildung, besserer Transport. Gleichzeitig steigt in Städten wie Rio de Janeiro die Gewalt.

Die Menschen spüren die Krise, so wie die Polizistin Daniela Chagas, 35. "Jetzt weiß man nie, wann das Geld kommt", sagt sie. "Oder ob es überhaupt kommt." Chagas geht durch die Favela Cerro Corá, sie arbeitet dort seit drei Jahren, Kinder umarmen sie, weißhaarige Männer heben die Hand zum Gruß. Cerro Corá gehört zu den sogenannten befriedeten Favelas, in denen die "Einheiten der Friedenspolizei" UPP kontrollieren. Hier ist es ruhig, sagt Daniela, in anderen ärmeren Vierteln nicht.

"A" steht auf der Uniform neben ihrem Namen. Das ist ihre Blutgruppe. "Falls etwas passiert", so drückt Chagas es aus. Die Stromkabel hängen wie Girlanden über den Straßen, Häuser stapeln sich an den Straßen, bunte Graffiti zieren die Wände. An einer Ecke unterhalten sich drei Frauen, sie rufen den Polizisten zu: "Was habt ihr für die Kinder geplant?"

Es gab Sozialprojekte hier, Kickboxen für Jugendliche etwa. Aber jetzt nicht mehr. Es fehlt an vielem. Der Staat ist mit der Polizei gekommen, aber er kommt nicht mit Perspektiven. Die versprochene medizinische Versorgungsstation ist nicht gebaut worden. Die Menschen müssen noch immer eine Stunde zum Arzt fahren. Am Hang gleich neben der Favela ist ein großes Krankenhaus, aber es ist privat, die Armen können eine Behandlung dort nicht bezahlen.

Tudo bem - das war einmal

So bleiben viele gute Projekte stecken; mit der Krise, so fürchten sie in Cerro Corá, könnte es schlimmer werden. Dabei hat die regierende Arbeiterpartei PT einst die Sehnsucht vieler Menschen nach Veränderung, nach sozialem Wandel bedient. Als Präsident Lula 2003 an die Macht kam, weitete er die Sozialhilfe aus, vielen Ärmeren ging es besser, sie schafften den Sprung in die untere Mittelschicht. Brasilien inspirierte die Linke in anderen lateinamerikanischen Länder. Es lief gut. Tudo bem, Daumen hoch!

Heute leidet das Land nicht nur unter der Wirtschaftskrise. Es erlebt auch, wie sich politische Lager unversöhnlich gegenüberstehen, der Ton ist harscher geworden. "Dilma, raus" skandierten Demonstranten in den vergangenen Monaten, Hunderttausende strömten im März auf die Straße. Sie sind wütend auf geschmierte Politiker und eine Präsidentin, die ihrer Meinung nach dieses System zugelassen hat.

Gegen 60 Prozent der brasilianischen Kongressmitglieder laufen Verfahren, unter anderem wegen Korruption, Stimmenkauf, Entführung und Mord. Rousseffs Gegenspieler Eduardo Cunha, der Präsident des Abgeordnetenhauses, wurde vergangene Woche abgesetzt. Ihm wird vorgeworfen, fünf Millionen Dollar an Schmiergeldern für Verträge der staatlichen Ölgesellschaft Petrobras angenommen zu haben.

Schein und Sein

Die Ironie in Brasilien ist, dass die Politiker, die das Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin vorangetrieben haben, selbst in Korruptionsskandale verwickelt sind. Mit korrekten Finanzen nehmen sie es plötzlich sehr genau. Offiziell wird das Impeachment mit Gesetzesverstößen beim Haushalt gerechtfertigt. Oder ist es die Chance, endlich selbst an die Macht zu kommen? Die konservativen Eliten jedenfalls wollen von dem Regierungswechsel profitieren, fürchten sie doch zunehmend um ihren Wohlstand.

Möglicherweise hat Rousseff ihre Gegner unterschätzt. Stur sei sie, sagen politische Beobachter, detailversessen, glanzlos. Sie konnte die Menschen nicht mitreißen wie ihr politischer Ziehvater Lula. 60 Prozent der Brasilianer bezeichneten in einer Umfrage ihre Regierungsführung zuletzt als "schlecht" oder "furchtbar". Die politische Krise nährt die wirtschaftliche und umgekehrt. Und beide nähren die Kunst.

"Für mich als Künstler ist die Krise ein Rohstoff", sagt Mauricio Dias. "Man wird kreativer, wach." Die Krise sei positiv - weil man alles überdenken müsse. Die Menschen in Brasilien lebten ohnehin mit einer permanenten Krise, sie bewältigten sie jeden Tag. Seit 1993 arbeitet Dias mit dem Schweizer Walter Riedweg als Künstlerduo zusammen. Immer wieder spiegeln sie die Wirklichkeit in dem südamerikanischen Land, mal mit einem Projekt über Straßenkinder, mal mit einer Installation, die die Proteste von 2013 zeigt und wie Polizisten mit Stöcken auf Demonstranten einschlagen. "Chapa Quente" heißt das Werk, und das kann heiße Herdplatte bedeuten oder explosive Situation.

Ja, sagt Dias, das beschreibe die aktuelle Lage gut. Brasilien erlebe einen Kollaps nach der Euphorie der Lula-Jahre. Er zeigt auf einen Satz von Lula, weiße Buchstaben auf schwarzen Grund gedruckt. Der Satz von Lula über die europäische Finanzkrise ist Teil einer Performance: "Wenn sie hier ankommt, wird sie nur eine kleine Welle sein." Rousseff musste ihn später korrigieren - es sei doch eine große Welle geworden.


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