Jean-Claude Juncker über den Brexit: “Zu viel Europa tötet Europa“
Im Interview spricht er über den richtigen Grad der Zurückhaltung in Brüssel, mögliche Reaktionen auf ein Ausscheiden der Briten - und die fehlenden Sympathien für seine Kommission.
SPIEGEL ONLINE: Wirken sich Warnungen oder gar Drohungen der Kommission vor einem Brexit kontraproduktiv auf die öffentliche Meinung in Großbritannien aus? Die Gegner könnten dem Präsidenten, also Ihnen, vorwerfen, er mische sich damit zu sehr in die britische Debatte ein.
Juncker: Wenn immer ich über den Brexit gesprochen habe, geschah das mit einer Zurückhaltung, die man von mir eigentlich nicht gewohnt ist. Ich habe wenig dazu gesagt, weil die EU-Kommission im Vereinigten Königreich sehr unpopulär ist. Unter diesen Umständen war es intelligent und richtig, so stumm wie möglich zu sein.
SPIEGEL ONLINE: Nicht mal ein Hinweis auf die Folgen?
Juncker: Zu den Konsequenzen eines Brexit habe ich gesagt, dass der Deserteur nicht mit offenen Armen empfangen wird. Das steht für die Haltung der Kommission ebenso wie für die Einstellung anderer Regierungen. Und natürlich hätte das Folgen für das Wahlverhalten in anderen Staaten, die in eine Richtung gehen, die wir uns so nicht wünschen.
SPIEGEL ONLINE: Der Kommissionspräsident hält sich raus?
Juncker: Jedes Mal, wenn ich über die großen Fragen Europas rede, heißt es, ich sage zu wenig. Rede ich über Probleme eines einzigen Mitgliedslandes, dann heißt es, ich sage zu viel. In Wahrheit ist mir das schnurzpiepegal.
SPIEGEL ONLINE: Wie sieht der Plan B aus, wenn Großbritannien den Brexit beschließt? Wie müsste die Kommission in diesem Fall reagieren?
Juncker: Jedenfalls nicht mit einer Neuverhandlung der bestehenden Verträge, das entspricht nicht den Neigungen der Mitgliedstaaten. In einer solchen Situation auf einer Vertiefung der bestehenden Regelungen für die Eurozone zu drängen, wäre wohl nicht realistisch. Wir dürfen nicht mit Aktionismus reagieren.
SPIEGEL ONLINE: Die Kommission ist nicht gerade beliebt, wie Sie selbst sagen. Europaskeptiker und Europagegner sind überall auf dem Vormarsch. Beunruhigt Sie das?
Juncker: Ich verwechsele Skeptiker nicht mit jenen, die gegen jede Form von Europäischer Integration sind. Die Kommission ist unbeliebt - aber Europa ist es nicht. Allerdings wird die Kommission oft mit Europa gleichgesetzt. Es gibt eine Abwendung, weil wir es versäumt haben, uns auf die großen Fragen zu konzentrieren, und uns gleichzeitig zu sehr in die Probleme der Staaten und Regionen einmischen.
SPIEGEL ONLINE: Eine Einmischung empfiehlt sich also nur bei den übergreifenden Fragen?
Juncker: Alles andere gehört in die Verantwortung der Mitgliedstaaten, nach dem Subsidiaritätsprinzip. Wir haben im Gegensatz zu früheren Kommissionen nur rund 25 Projekte angeschoben. Ich glaube, zu viel Europa überall endet damit, dass es Europa tötet. Genauso würde aber auch zu wenig Europa Europa töten.
SPIEGEL ONLINE: Im Falle eines Brexit setzt Frankreichs Präsident Hollande zusammen mit Deutschland auf eine gemeinsame Initiative für Europa. Was halten Sie davon?
Juncker: Zunächst müsste der französische Präsident diese Idee nicht nur skizzieren, sie müsste konkrete Gestalt annehmen. Ich bin nicht gegen eine deutsch-französische Initiative, aber sie sollte nicht als exklusiver Beitrag erscheinen, weil das nicht förderlich wäre. Und warum nicht einfach eine französische Initiative? Dann könnte Frankreich alles sagen, was es will.
SPIEGEL ONLINE: Entscheiden sich die Briten für Europa, werden sie dann bei künftigen Verhandlungen nicht mit ihren Forderungen noch nachlegen?
Juncker: Das Abkommen mit London hat uns viel Zeit gekostet, aber in der derzeitigen Debatte in Großbritannien über den Ausstieg überhaupt keine Rolle gespielt. Die Briten reden über die Folgen eines Brexit, als sei es eine Katastrophe oder das Gegenteil. Aber wenn sie sich gegen den Ausstieg entscheiden, wird unser Abkommen die Plattform für weitere Initiativen sein, um Europa wettbewerbsfähiger zu machen.
Quelle: spiegel.de