Vor zehn Jahren verkörperten sie die Hoffnung der britischen Konservativen. David Cameron hatte 2005 die Führung der heillos zerstrittenen Partei übernommen und verordnete der demoralisierten Truppe eine Erneuerung an Haupt und Gliedern. Einer seiner Hoffnungsträger war Boris Johnson. Dessen Wahl zum Bürgermeister in der traditionell Labour-zugeneigten Hauptstadt London 2008 zeigte den Tories, dass sie wieder Wahlen gewinnen können. Zwei Jahre später war Cameron britischer Premierminister. Heute sind die beiden in einen politischen Existenzkampf verstrickt, den nur einer von ihnen überleben wird.
Johnson, der am Sonntag seinen 52. Geburtstag feiert, und Cameron, der im Oktober 50 wird, kennen sich seit gemeinsamen Tagen an der Eliteschule Eton. Das heißt, der Ruhm Johnsons sprach sich auch bis zu dem jüngeren Cameron herum, während Ersterer in späteren Jahren behauptete, „an der Schule nicht viel von David bemerkt zu haben“. Ein Seitenhieb, der saß. Johnson war ein außergewöhnlich begabter Schüler, der aber schon damals mindestens ebenso viel Energie darin investierte, sich dumm zu stellen und lieber den Klassenclown gab.
Das sollte sein Markenzeichen werden. Hinter der Masche des „Hofnarren“, wie ihn jüngst der frühere Premierminister John Major bezeichnete, verbirgt sich messerscharfe Intelligenz. Sein Markenzeichen, der Wuschelkopf, signalisiert bereits, dass er nicht alles ernst meint, und einem Witz ist er tatsächlich nie abgeneigt. Am Höhepunkt der EU-Referendumskampagne fand Johnson Muße, ein Spottgedicht auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu verfassen, das mit den Worten beginnt: „There was a young fellow from Ankara/Who was a terrific . . .“
Söhne wohlhabender Eltern
Die Wege von Cameron und Johnson kreuzten sich wieder an der nächsten Eliteeinrichtung, der Universität Oxford. Beide gehörten dem berüchtigten Bullingdon Club an, der für seine Exzesse weit über die Stadt hinaus bekannt ist. Als Söhne wohlhabender Eltern mussten sie sich aber selbst um zertrümmerte Restauranteinrichtungen keine Sorgen machen. Laut einer nicht autorisierten Cameron-Biografie aus dem vergangenen Jahr gab es damals auch ein skandalträchtiges Aufnahmeritual mit einem Schweinekopf.
Trotz aller Ablenkung brillierten beide in ihren Studien, der Verfassungsrechtler Vernon Bogdanor bezeichnete Cameron Jahre später als „einen der besten Studenten, die ich jemals hatte“. Johnson entschied sich gegen das Angebot, eine wissenschaftliche Karriere als Altphilologe einzuschlagen. Stattdessen heuerte er als Journalist bei der Londoner „Times“ an, wo er Jahre später entlassen wurde, weil er ein Zitat erfunden hatte. „Wie ich selbst entdeckt habe, gibt es keine Katastrophen, sondern nur Chancen. Und Chancen für neue Katastrophen.“ Als Brüssel-Korrespondent des „Daily Telegraph“ von 1989 bis 1999 trug er mit Berichten über Gurkenkrümmungsverordnungen und Einheitsgrößenpräservativen wesentlich zur Europa-skeptischen Haltung vieler Briten bei. Cameron arbeitete sich zu dieser Zeit im Parteiapparat der Konservativen rasch in Ministernähe hoch.
Als sich die Konservativen in der Opposition gegen New Labour aufzehrten, zogen sowohl Johnson als auch Cameron 2001 erstmals ins Parlament ein. Während Johnson eher mit seinem lebhaften Privatleben von sich reden machte, ging Cameron zielstrebig daran, die Partei zu übernehmen. Als er 2005 zum Tory-Chef gewählt wurde, forderte er seine Truppe unter anderem dazu auf, „endlich damit aufzuhören, sich ewig über Europa zu ergehen“ und jahrzehntealte Kämpfe zu pflegen.
Von Camerons ursprünglichen Ideen eines modernen und liberalen Konservativismus blieb über die Jahre so gut wie nichts übrig. Die Kluft zwischen einer urbanen Parteispitze und einer rustikalen Basis wurde sogar noch größer, etwa, als er gegen den Willen der Parteimehrheit die Homosexuellen-Ehe durchsetzte.
Cameron respektiert, Johnson geliebt
Weil Cameron den Kardinalfehler beging, seine Gegner nie zu einem Showdown zu zwingen, begannen sie, ihm Zugeständnisse abzuringen. In der Europa-Frage, in der Camerons eigene Haltung lange mehrdeutig blieb, kulminierte und eskalierte schließlich die Auseinandersetzung. Dass sich Johnson entgegen allen Erwartungen in letzter Sekunde auf die Seite der EU-Gegner schlug, kann Cameron nicht anders als Verrat empfunden haben.
Während die Briten Cameron (bisher) dank seines Amtes respektiert haben, lieben sie Johnson – und zwar gerade für seine Fehler, für seine Übertreibungen, und vor allem dafür, dass er ihnen vorspielt, anders als alle anderen Politiker zu sein. In einer Fernsehdiskussion zitierte er in der vergangenen Woche munter aus einer Studie der Bank of England, bis ihn der schottische Spitzenpolitiker Alex Ferguson öffentlich blamierte: Johnson habe den Bericht überhaupt nicht gelesen. Nach kurzem Erröten plapperte Johnson munter weiter. Keinem anderen Politiker würden die Wähler derartige Unverschämtheiten nachsehen – und es gibt unzählige solche Beispiele.
Brutalität der Auseinandersetzung
Wie tief die Verletzungen zwischen Cameron und Johnson sind, zeigt sich in der Brutalität der Auseinandersetzung. „Das ist das erste Mal, dass jemand die Scheidung einreicht, um die Ehe zu erneuern“, verspottete Cameron eine Aussage Johnsons über ein angeblich mögliches zweites Referendum. „Ich finde es beleidigend, kränkend, bedeutungslos und absolut kretinös, wenn mir Leute, die kaum eine Fremdsprache beherrschen, vorwerfen, ich gehöre zu einer Gruppe kleinkarierter Ausländerfeinde“, sagte Johnson, der gern mit lateinischen Worten um sich wirft und fließend Französisch und Italienisch spricht, an die Adresse Camerons, von dem keine Fremdsprachenkenntnisse bekannt sind. Als er sich zum Anführer der EU-Gegner machte, hat Johnson alle Brücken mit den moderaten Konservativen Camerons abgebrochen. Selbst wenn er jede Ambition vehement bestreitet, bleibt ihm nur die Option, den Posten des Premierministers zu gewinnen oder politisch unterzugehen. Dasselbe gilt freilich für Cameron. Zwar lehnt er selbst für den Fall einer Niederlage in der EU-Volksabstimmung seinen Rücktritt ab, doch die Rebellion gegen ihn ist mittlerweile so weit verbreitet, dass ein konservativer Abgeordneter bereits höhnte: „Natürlich wird er nicht zurücktreten. Wir werden ihn hinausschmeißen.“
Sorgen muss man sich jedenfalls um keinen der beiden machen. Johnson ist dank seiner Nebentätigkeiten als Kolumnist und Buchautor gemäß seiner jüngsten Steuererklärung mit mehr als 600.000 Pfund im Vorjahr der am besten verdienende Politiker Großbritanniens. Und Camerons Vater hinterließ seinem Sohn nicht nur ein ansehnliches Vermögen, sondern – wie die Panama-Papers enthüllten – parkte es für den Nachwuchs gleich steuersparend. Welchem dieser beiden Millionäre so mancher Mindestrentner am kommenden Donnerstag seinen Glauben schenkt, wird entscheiden, ob Großbritannien in der EU bleibt.
Quelle: diepresse.com
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