Der Brexit ist nur der Anfang vom Abstieg Europas

  24 Juni 2016    Gelesen: 381
Der Brexit ist nur der Anfang vom Abstieg Europas
Die Briten werden die EU verlassen. Für Europa ist das ein schlechtes Zeichen – politisch und wirtschaftlich. Der "alte Kontinent" droht global gesehen in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.
Jetzt ist es offiziell: Großbritannien hat sich für den Ausstieg aus der Europäischen Union (EU) entschieden – den Brexit. Und nun fühlt man sich als Europäer ein bisschen wie einer von vielen in einer Kinderschar: Einer der Halbwüchsigen hat im Garten der Eltern mit dem Feuerzeug gespielt. Jetzt schauen alle halb mit Entsetzen, halb mit Faszination zu, wie die Flammen im trockenen Gras um sich greifen.

Um im Bilde zu bleiben: Andere Kinder ergreift die Panik. Sie lassen alles stehen und liegen. Sie flüchten. Vor allem aus England, aber auch aus Europa. Sie verkaufen die britische Währung Pfund gleich in Massen. Und weil man nicht einmal erahnen kann, wie weit das Feuer um sich greifen wird, ob es am Ende nicht sogar die gesamte europäische Siedlung niederbrennen wird, stoßen sie auch den Euro ab. Ist das der Anfang vom Ende Europas?

Zugegeben: Finanzmärkte neigen zu Überreaktionen. Es gibt nur schwarz oder weiß. Wenn die Ersten in der Horde zu rennen beginnen, laufen die anderen hinterher. Oft auch in die falsche Richtung. Noch weiß keiner, wie so ein Brexit am Ende aussehen wird, nach mindestens zwei Jahren zäher Verhandlungen mit jenem Europa, dass die Briten nun verlassen wollen.

Signal zur Auflösung der Europäischen Union befürchtet

Die finsteren Ahnungen allein aber reichen schon aus, um unter jenen, die sich ein bisschen auf Ökonomie verstehen, Angst und Schrecken zu verbreiten. Denn die Flucht des Vereinigten Königreichs könnte mehr sein als nur der traurige Abgang eines einzelgängerischen Volkes aus einer als Zwangsgemeinschaft verstandenen europäischen Familie. Er könnte das weithin hörbare Signal zur Auflösung der gesamten EU sein.

Auch in anderen EU-Staaten, darunter auch in Deutschland, gibt es genügend Menschen, die der EU kaum noch etwas Positives abgewinnen können. Sie empfinden die Gemeinschaft als einengende Klammer, dirigiert von einer nicht gewählten und damit diktatorischen Regierung in Brüssel. Deren Präsident Jean-Claude Juncker erscheint ihnen als das Sinnbild des Europas, das sie ablehnen. Ein Mann der Hinterzimmergeschäfte. Einer, der wie die Altvorderen im Sozialismus politische Gegner und Feinde mit Umarmung und Küsschen zu entwaffnen versucht. Dem guten Leben etwas übermäßig zugetan. Weich, dekadent. Dass Juncker ein Mann des Ausgleichs ist, geht in Deutschland zum Beispiel völlig unter.

Ein Europa ohne EU, ohne Euro, ohne Wettbewerbskommission, ohne Freizügigkeit, ohne Subventionen für die Landwirtschaft, ohne Schengen – ein Europa der Nationalstaaten eben wäre für alle besser, vor allem wirtschaftlich, sagen Kritiker. Und das glauben auch in Deutschland nicht wenige. Der Brexit als Chance für einen Aufbruch in die wirtschaftliche Selbstbestimmung. Nur die Freihandelszone darf bitte bleiben. Denn davon profitieren ja alle. So die Überzeugung mancher auch hier. Deutschland werde davon profitieren, denn das Land spielt nicht nur in Europa, sondern weltweit ganz vorn mit.

Deutsche Wirtschaft wird als Bedrohung gesehen

Doch das ist nur ein Traum. Wer darauf wettet, dass Europa als Freihandelszone überleben kann, wird vermutlich verlieren. Europa ohne die – auch einengenden – Bindungen der Brüsseler Gemeinschaft wird sich zurückentwickeln zu einem Kontinent der Egoismen, mindestens der ökonomischen Machtkämpfe. Warum sollten Staaten, deren Unternehmen im Konkurrenzkampf mit der deutschen Wirtschaft nicht wettbewerbsfähig sind, Waren aus Deutschland nicht höher besteuern? Warum sollten sie nicht irgendwelche Hindernisse für Importe aus München, Stuttgart oder Wolfsburg erfinden, um die heimische Wirtschaft zu schützen? Warum sollten sie die dreckigen Dieselfahrzeuge auf ihren Straßen nicht ganz verbieten?

Unvorstellbar, weil es internationale Vereinbarungen gibt? Vieles ist mittlerweile vorstellbar, weil man eben nicht weiß, was die stark gewordenen Fliehkräfte von Europa übriglassen werden. Es ist nicht Gott gegeben, dass wir unsere Waren in jedes Land Europas exportieren können, ohne dafür etwas zu geben. Schon jetzt empfinden viele Nachbarn unsere ökonomische Stärke als Bedrohung. Eine Auflösung der EU wird dazu führen, dass sich diese Länder gegen die Mittelmacht Deutschland verbinden, dass sie versuchen werden, unsere ökonomische Vormachtstellung zu brechen.

Noch können sich viele Deutsche, auch viele Europäer nicht vorstellen, was die neue Kleinstaaterei für den Kontinent bedeutet. Nicht wenige hier glauben, dass Deutschlands ökonomische Vormachtstellung in Europa, die starke Rolle in der Welt eine unverrückbare Konstante sind. "Wir verkaufen unsere Waren nach China, Indien, Brasilien, Russland und die USA. Was brauchen wir da Europa?", fragen selbstbewusst viele. Es ist ein ebenso rückwärtsgerichteter Blick wie die Brexit-Entscheidung der Briten. Denn der Status quo ist eben nicht garantiert.

Europa der Kleinstaaten wird an Bedeutung verlieren

Die Welt hat sich in den vergangenen 20 Jahren rasend schnell verändert. China gehört inzwischen zu den mächtigsten Volkswirtschaften der Welt. Andere Länder werden ebenfalls aufholen. Deutschland, heute ökonomisch scheinbar noch stark und groß, wird mit seiner alternden Bevölkerung, seiner schrumpfenden Zahl an Einwohnern an Bedeutung verlieren. Was sind knapp 80 Millionen Menschen im Vergleich zu mehr als 1,3 Milliarden Menschen in China? Oder fast 1,3 Milliarden Menschen in Indien?

Uns fehlt die Fantasie, wir überschätzen unsere eigene Rolle und riskieren damit unsere wirtschaftliche Zukunft. Ein Europa der Kleinstaaten wird global gesehen an Einfluss verlieren. Glauben wir Deutsche zum Beispiel wirklich, dass Amerikaner oder Chinesen mit uns separat über Verträge wie das Freihandelsabkommen TTIP verhandeln würden? Oder fänden wir es sogar besser, wenn sie es nicht täten? Wie naiv.

Europa – das zeigt das Brexit-Votum der Briten und die Anti-EU-Stimmung in anderen Ländern – lebt im Wolkenkuckucksheim. Ohne die Union werden Amerikaner, Chinesen und andere Riesenreiche die Standards künftig unter sich ausmachen, nach denen die Welt wirtschaftlich regiert wird. Sie werden Ressourcen unter sich aufteilen, Einflusssphären abstecken. Wir, die zerstrittenen Europäer, können dann zusehen, was für uns abfällt. Mitbestimmen werden wir nicht.

Europa ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft

Egal, dafür sind wir endlich wieder selbstbestimmt, würden nicht nur viele in Großbritannien diesen Argumenten entgegenhalten. Nur was selbstbestimmt in einer Welt der Großen heißt, lässt sich politisch im Südchinesischen Meer beobachten. Die Chinesen schütten künstliche Inseln auf, mit denen sie ohne jede Rücksicht und auch dank ihrer ökonomischen Stärke ihre Interessen in der Region durchsetzen. Warum sollte ein Land, das politisch derart brutal mit seinen Nachbarn umgeht, in einer ferneren Zukunft die ökonomischen Ansprüche europäischer Zwergstaaten achten?

Wacht auf, möchte man den Europäern zurufen. Auch uns Deutschen. Denkt an die Zukunft eurer Kinder und Enkel. Seid weitsichtig. Europa ist mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Doch selbst wenn man die EU darauf verengt, wird es für uns alle billiger, einen Teil unserer Souveränität, ja sogar unseres Geldes nach Europa zu transferieren, anstatt in die Zeit vor der EU zurückzufallen.

Was allerdings nicht heißt, dass Europa so weitermachen kann wie bisher. Denn das Unbehagen gegenüber einem Europa, das große Probleme nicht lösen kann, dafür zum Teil neue schafft, ist begründet. Der Austritt der Briten muss den anderen europäischen Regierungen daher ein Warnsignal sein. Weitermachen wie bisher geht nicht.

Die Europäische Union wird sich neu erfinden müssen. Sie wird neu definieren müssen, was aus Brüssel geregelt wird – und was künftig in der Hand der Nationalstaaten bleibt, vielleicht sogar von Brüssel wieder in die Hauptstädte zurückdelegiert wird. Aufgaben für die Union gibt es genug: wirtschafts- und finanzpolitische Reformen, die Sicherung der Außengrenzen, die Lösung des Flüchtlingsproblems. Daran muss sich Europa beweisen. Sonst droht uns allen nicht nur der politische, sondern auch der ökonomische Abstieg mit erheblichen Wohlstandsverlusten auf dem alten Kontinent. Der Brexit ist nur das erste böse Omen dieser Entwicklung.

Quelle : welt.de

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