Wenn Politik am Stammtisch entschieden wird

  25 Juni 2016    Gelesen: 544
Wenn Politik am Stammtisch entschieden wird
Mit Parolen, Drohungen und Lügen haben Populisten die Entscheidung über den Brexit beeinflusst. Bei einem so komplexen Thema hätte es kein Referendum geben dürfen.
Die Briten haben knapp, aber eindeutig entschieden. Der Brexit kommt. Es stellt sich nun nicht nur die Frage, wie sich in Zukunft die Beziehung des britischen Königsreichs zur EU gestaltet, sondern auch die Frage nach dem sinnvollen Einsatz politischer Instrumente wie einem Volksentscheid oder Referendum. Welche Mittel der Demokratie ergeben, abhängig von der zu fällenden Entscheidung, Sinn? Und welche Entscheidungen sollten doch lieber den gewählten Volksvertretern überlassen werden?

Dazu vorab: In Deutschland werden die Begriffe Volksentscheid und Referendum oft synonym gebraucht, obwohl sie für verschiedene Vorgänge stehen. Bei einem Volksentscheid ist ein Anliegen aus dem Volk heraus via Bürgerinitiative oder Volksbegehren an die Öffentlichkeit gelangt, bei einem Referendum wird über eine vom Parlament oder der Regierung erarbeitete Vorlage entschieden. In Großbritannien wurde ein Referendum abgehalten.

Die Abstimmung über den Brexit zeigt deutlich, dass die Entscheidung des Volkes stark von den Positionen der Abgeordneten abwich. Im britischen Unterhaus stimmten nur 30 Prozent der Abgeordneten für den Brexit, in der Bevölkerung waren es 51,9 Prozent. Diese Differenz ist bemerkenswert. Sie zeugt davon, dass eine rationalere Herangehensweise, die über ein lautes einfaches emotionsgeschwängertes "Britain first!" hinausgeht, zu deutlich anderen Ergebnissen führt.

Komplexere Themen sind schwerer zu vermitteln, sie lassen sich nicht auf Parolenform und im Imperativ erklären. Je komplexer ein Thema ist, desto eher haben Populisten einen Vorteil bei Volksentscheiden und Referenden. Derjenige, der sich abmühen muss zu erklären, warum etwa die EU gegründet wurde und warum dieser Gründung ein zutiefst pazifistisches Motiv zugrunde liegt: Nie wieder Krieg in Europa durch möglichst enge wirtschaftliche, politische und kulturelle Verflechtungen, die einen Krieg quasi unmöglich machen, derjenige hat mehr zu tun und braucht mehr Worte. Viel mehr Worte als einer, der einfach nur sagt, "Britain first!" oder behauptet, "Brüssel verschwendet unsere Gelder!".

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Erklärungen, warum der Nationalstaat nicht die ultima ratio der staatspolitischen Räson sein muss und ideengeschichtlich im 19. Jahrhundert mit den bekannten Folgen verankert ist, haben es schwer im Vergleich mit Parolen wie "Stop refugees". Die Rechtspopulisten in Großbritannien haben mit genau solchen Parolen für den Brexit geworben. Und sicher haben viele der Brexit-Befürworter schlicht erlogene Aussagen wie "77 Millionen Türken auf dem Weg nach Großbritannien!" geglaubt. Mit Parolen, Drohungen und Angsterzeugung lassen sich Volksentscheide und Referenden klar beeinflussen. Mit Politik hat das nicht viel zu tun.

Das Bild der EU als elitäres Gebilde

In Deutschland wäre die Todesstrafe übrigens bis heute nie abgeschafft worden, hätte man dem Volk diese Entscheidung überlassen.

Gegen den häufigen Einsatz von Volksentscheiden und Referenden spricht auch, dass ihre Ergebnisse stark von Stimmungen, Moden und aktuellen Ereignissen geprägt sind. Gerade die Wechselwähler, auf die es ankommt, entscheiden innerhalb der letzten 48 Stunden vor der Wahl. Diese Ergebnisse sind dann aber, in Form von Gesetzen oder Verträgen, oft für Jahrzehnte bindend.

Ein Problem in Großbritannien war ferner, dass komplexere Erklärungen, da sie schwerer zu verstehen sind, sofort das Bild der EU als elitäres Gebilde und das Klischee vom "EU-Bürokraten" verfestigen. Dagegen formiert sich, auch in Großbritannien, eine gesellschaftliche Schicht, die jedoch keinesfalls von "mehr nationaler Rückbesinnung" profitieren würde.

In allen europäischen Ländern wurde in den vergangenen Jahrzehnten die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Nicht die Politik der EU war hierfür ausschlaggebend, sondern nationale Entscheidungen über die Einkommensverteilungen, die Rentenhöhe, Kürzungen von Sozialsystemen und anderem. In Großbritannien steht Margaret Thatcher für diesen Kurs.

Der Wiener Schriftsteller und Publizist Robert Menasse schreibt in seinem Essay Der Europäische Landbote, für den er in Brüssel ein Jahr lang recherchiert hat: "Die Nationalstaaten betreiben durch Privatisierungen, Sozialabbau und Rückzug von wesentlichen Staatsaufgaben einen systematischen Staatsabbau, aber dort, wo die Nationalstaaten vernünftigerweise zurückgebaut werden sollten, in der Europäische Gemeinschaft, dort spielen sie den starken Staat." Die beliebte Formel "Weniger Staat" müsste eigentlich "Mehr Europa" bedeuten, resümiert Menasse.


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