Silvio S. wurde langsam zum Kindermörder

  04 Juli 2016    Gelesen: 823
Silvio S. wurde langsam zum Kindermörder
Seit Mitte Juni steht der Mörder von Elias und Mohamed vor Gericht. Der Polizei hat Silvio S. die Taten gestanden, im Prozess schweigt er. Doch aus den verschiedenen Zeugenaussagen entsteht das Bild eines Mannes, in dem es schon lange brodelte.
Fünf der geplanten zwölf Verhandlungstage im Prozess gegen Silvio S. sind vorüber. In die Abläufe im Saal 8 am Potsdamer Landgericht ist ein wenig Routine eingekehrt. Inzwischen sind nicht mehr alle Zuschauerplätze besetzt, wenn gegen den Mann verhandelt wird, der laut Anklage den sechsjährigen Elias und den vierjährigen Mohamed umbrachte, und den viele für ein Monster halten.

Silvio S. hat bisher geschwiegen, doch aus den Berichten von Verwandten, Nachbarn und Zeugen fügt sich ein Bild zusammen. Es zeigt einen 33-jährigen Mann, der noch immer im Haus der Eltern lebte, in vermüllten Räumen, ohne Partnerschaft, in enger Beziehung zur Mutter, im Dauerstreit mit dem Vater. Für den Rechtspsychologen Rudolf Egg sind schon diese Lebensumstände durchaus auffällig. "Das wäre nicht untypisch für ähnliche Schicksale, dass es eine komplexe, ambivalente Bindung an die Eltern gibt", sagt Egg n-tv.de. Die meist männlichen Täter scheiterten wie S. an der Aufgabe, "selbständig zu werden, für sich selber zu sorgen, sich von der Herkunftsfamilie zu lösen und sich einer Partnerin oder einem Partner zuzuwenden".

Als vom Vater getrieztes "Muttikind" hatte ein Zeuge S. beschrieben, ein über 30-jähriger, der sich nicht wie ein erwachsener Mann benommen habe. Egg vermutet, dass S. keine Erwachsenenrolle entwickelte, sondern in der kindlichen Abhängigkeit verblieb. "Gleichwohl litt er wohl darunter, weil er merkte, die Umgebung sieht ihn als nicht ganz reif an."

Kinder mochten S.

Schon in der Schule wird S. gehänselt, hat kaum Freunde. Er würde gern Kfz-Mechaniker werden, aber seine Noten sind zu schlecht. Er versucht es zwei Mal mit einer Lehre zum Koch, dann noch mit einer zum Fliesenleger. Schließlich heuert er bei einem Sicherheitsunternehmen an, bewacht nachts Beton- und Kieswerke. S. hatte noch nie eine Freundin, auf Nachfragen sagt er dazu nur: "Was soll ich denn damit noch? Mein Geld kriege ich auch alleine alle." Die Nachbarn berichten, Kinder hätten S. immer gemocht.

"Das passt dazu, wenn man steckenbleibt in seiner sozialen Entwicklung", sagt Egg. "Wenn man sich nicht vom Kind zum Jugendlichen und dann zum Erwachsenen entwickeln kann, dann orientiert man sich eher in regressiver Form, also an den Jüngeren." Das sei ein bisschen wie bei Peter Pan, der auch nicht erwachsen werden wollte und auf einer Insel mit lauter kleinen Jungen lebte. "Viele Pädosexuelle bleiben auf dieser Stufe stehen und wollen eigentlich so bleiben, wie die Jungs, die sie dann missbrauchen."

Egg vermutet, dass S. schon immer ein sexuelles Interesse an Jungen hatte. Dabei müsse man aber die sexualwissenschaftliche Erkenntnis berücksichtigen, dass die sexuelle Orientierung von Menschen nicht immer eindeutig ist. Kaum jemand sei nämlich zu 100 Prozent heterosexuell und ausschließlich auf altersentsprechende Personen bezogen und hat selbst in seiner Fantasie keine anderen Interessen, beispielsweise an jüngeren Personen oder an Personen des gleichen Geschlechts. Silvio S. könnte zwar primär auf Jungen fixiert gewesen sein, er könnte aber auch davon geträumt haben, einmal eine Frau zu haben. Man weiß es nicht. Im Internet soll er mal versucht haben, Frauen kennenzulernen, berichtete ein langjähriger Freund im Prozess. Aber daraus sei wohl nichts geworden. "Da müsste man mal ausgehen." Und Silvio S sei nicht "so der Typ, der in die Disco geht".

"Er hat Kinder gern"

Stattdessen entwickelt er seine eigenen Fantasien immer weiter. Zunächst sei es wahrscheinlich um Zärtlichkeiten gegangen, "aber eben in einer seltsamen, auffälligen Weise", glaubt Egg. S. kauft Puppen, mit denen er "spielen" kann. Er schneidet unzählige Kinderköpfe aus Zeitungen aus, macht sich eine Art "Sammelalbum". "Bei Pädosexuellen geht es nicht immer nur um Zerstörung und Gewalt", erläutert Egg. "Er hat Kinder gern, fühlt sich zu ihnen hingezogen. Aber er mag sie halt in einer Weise, in der man Kinder nicht mögen sollte. Und die Kinder sollen auch wollen, dass er mit ihnen so ist." Auf der anderen Seite hat S. wohl Gewaltfantasien. Die Polizei stellt in seiner Wohnung Zettel sicher, auf denen steht mit rosa Textmarker: "Mädchen Junge Messer", "Kind fesseln und knebeln", "Mund zukleben", "Kind besoffen machen", "Wohnwagen im Wald". Eine Polizistin sagt im Prozess, für sie habe das nach Wünschen geklungen, die "man umsetzen möchte". An den Puppen lebte er seine Fantasien aus, zeigen Bilder aus seiner Wohnung, erlebt vielleicht so etwas wie sexuelle Befriedigung.

Was schließlich der Auslöser für die Taten an Elias und Mohamed war, ist noch unklar. In anderen Fällen, mit denen der Rechtspsychologe Egg zu tun hatte, waren es der Tod der Mutter oder der Verlust von Job oder Freunden. "Dann bricht die zunächst nur in der Fantasie vorhandene Welt nach außen, so dass er das dann auch umsetzen will."

Am 8. Juli 2015 lockt Silvio S. in Potsdam den sechsjährigen Elias in sein Auto. Der Anklageschrift zufolge gibt er Elias ein Schlafmittel, setzt ihm eine Maske auf und knebelt ihn. S. will den Jungen sexuell missbrauchen, doch Elias weint und wehrt sich. Schließlich stranguliert S. den Jungen bis der stirbt. Die Leiche vergräbt S. in seinem Schrebergarten, ein Nachbar hatte ihm eine Schaufel geschenkt.

Was danach in S. vorging, kann man nur mutmaßen. Vielleicht war er erschrocken über sich selbst, vielleicht überrascht, wie leicht die Tat war. Am 21. Oktober lockt er den vierjährigen Mohamed vom Berliner Lageso-Gelände weg, bringt ihn mit dem Auto nach Niedergörsdorf in seine Wohnung. Auch Mohamed gibt er ein Schlafmittel, und auch Mohamed weint nach seiner Mama, während S. ihn zu sexuellen Handlungen bewegen will. Als Silvio S. schließlich fürchtet, seine Eltern könnten das Kind hören, erwürgt er Mohamed.

Keine Emotion für die Opfer

Wenn die Familien der Opfer im Gerichtssaal über ihre Kinder sprechen, über deren Wesen, ihre Neugier auf die Welt, ihr Zutrauen gegenüber Erwachsenen, schaut Silvio S. schweigend nach unten. Wenn die Mütter von dem Leid berichten, das der Tod ihrer Kinder in ihr Leben gebracht hat, schließt er die Augen. Wenn Mohameds Schwester im Zeugenstand leise sagt, dass sie oft Angst hat, dass ihr anderer kleiner Bruder auch verschwinden könnte, verzieht er keine Miene. Er ist dünner als auf den Fahndungsbildern, sein Haar ist grau geworden.

Seiner Familie schreibt er aus dem Gefängnis: "Hallo Familie, vermisse euch sehr. Ich weiß, was ich euch und auch anderen mit meinen Taten angetan habe, würde mich aber über einen Besuch oder Brief sehr freuen." Egg glaubt, dass S. jede Emotion für die Opfer abspaltet. "Das nimmt er gar nicht wahr, will sich auch nicht damit beschäftigen, weil ihn das zu sehr verletzen würde. Bei dem anderen hat er noch eine Emotionalität, das kann er nicht abspalten, das gehört noch zu ihm dazu."

So monströs die Taten von S. auch erscheinen, juristisch ist lediglich relevant, ob er wusste, was er tat, ob er es auch hätte lassen können. Richter Theodor Horstkötter deutete bereits an, dass er S. für voll schuldfähig hält. So sieht es auch Egg, der lediglich für möglich erachtet, dass man die langanhaltende sexuelle Störung von S. als eine gewisse Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit ansehen könnte. Horstkötter hat S. mehrfach gebeten, sein Schweigen zu brechen und den Eltern vom Elias und Mohamed zu sagen, was passiert ist. Die Verteidigung von S. hat das nicht ausgeschlossen.


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