Bremen nimmt mit 33 Prozent Kinderarmut bundesweit einen denkwürdigen Spitzenplatz ein. In Leipzig sind 27 Prozent der Kinder arm, in Berlin ist jedes dritte, selbst im reichen Hamburg ist jedes fünfte Kind arm.
Elternarmut bedeutet immer Kinderarmut und damit Ausgrenzung von der Teilhabe an dem, was ein Leben lebenswert macht oder Bildungs- und Aufstiegschancen ermöglicht. Laut aktuellem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes sind in Deutschland 2,7 Millionen Kinder arm. "Das Problem ist seit Jahren bekannt. Aber wenn man den Kindern wirklich helfen will, muss man auch bei den Eltern ansetzen. Das geschieht nicht", sagt Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes.
Denn niedrige Einkommen durch prekäre Arbeitsverhältnisse (85 Prozent) sowie die besondere Situation von Alleinerziehenden (75 Prozent) sind laut Statistik die Hauptgründe für fehlendes Geld in Familien und damit auch die wichtigsten Auslöser für Kinderarmut in Deutschland. "Politik wird heute nur noch für eine vermeintliche Mittelschicht gemacht. Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind, finden sich oft in dieser Politik nicht wieder und werden nicht als wahlentscheidende Zielgruppe wahrgenommen", vermutet Igor Wolansky, Referent für Jugendhilfe/Hilfen zur Erziehung und Psychiatrie beim Awo Landesverband Berlin und Mitglied der Landesarmutskonferenz Berlin.
Armut hat viele Facetten: Arm ist jenes Mädchen, das sich ein Jahr mit kaltem Wasser wusch, keine warme Mahlzeit bekam und auf elektrisches Licht verzichten musste, weil zu Hause der Strom abgestellt war. Arm ist der Junge, der keine Geburtstagseinladung annehmen darf, weil kein Geld da ist für ein Geschenk. Arm sind all die Kinder, die keinen Platz zum Hausaufgabenmachen haben, die niemals in den Zoo, ins Kino, in den Sportverein gehen und deren Eltern sich die Kleidung nicht leisten können, die gerade angesagt ist. Arm ist der Junge, der wegen mangelhafter Ernährung und Bewegung so dick ist, dass er motorisch unterentwickelt ist und die Zähne faul sind.
Die Folgen sind für die Kinder verheerend. Wer in Armut aufwächst, ist oft schlechter in viele gesellschaftliche Bereiche integriert. "Diese Kinder haben kein Selbstwertgefühl", sagt Martina Furlan, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes Dortmund (Armutsquote 22 Prozent). Sie beobachtet, dass immer mehr arme Familien isoliert leben. "Bei denen gibt’s nichts Unbeschwertes. Leben, um zu überleben, bietet keine Aussicht auf ein Erfolgserlebnis."
Die Hilfen sind zu knapp und kommen nicht an
Zwar gibt es das Bildungs- und Teilhabepaket aus dem Jahre 2011 – doch Experten kritisieren es. Der Aufwand sei zu groß, die Förderung zu gering. "Heute bekommen gute Schüler Nachhilfe, um das Niveau zu halten. Kinder aus Familien, die Hartz IV beziehen, dürfen erst dann Nachhilfe beantragen, wenn die Versetzung gefährdet ist. Der Lehrer muss die Bedürftigkeit für das Jobcenter dokumentieren. Die dann geförderte Nachhilfe wird aber sofort wieder eingestellt, sobald das Kind wieder eine glatte Vier schreibt", sagt Igor Wolansky.
Am Beispiel von Bremen wird deutlich, dass der entscheidende Weg aus der Armut heraus bislang nicht erfolgt ist. Trotz gegenteiliger politischer Beteuerungen gleicht das Bremer Bildungssystem nach Angaben von Gerd Wenzels, Vorsitzender des Verbandsrates Paritätischer Bremen, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft ungleichen Chancen von Kindern und Jugendlichen nicht angemessen aus. 80 Prozent der Kinder von Akademikern machen Abitur. Aber nur 20 Prozent der Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien schaffen es zur Hochschulreife. In Bremen haben gut 7.000 junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 24 Jahren weder einen Berufsabschluss noch einen Ausbildungsplatz – obwohl es zugleich immer weniger Bewerber auf einen Ausbildungsplatz gibt und viele Betriebe keine Lehrlinge finden.
Dass Förderprogramme nicht greifen oder die Menschen nicht erreichen hat viele Ursachen. Armut ist ein komplexes Phänomen. Oft ist Einkommensarmut verbunden mit einer unzureichenden schulischen und beruflichen Qualifikation, mit individuellen gesundheitlichen Problemen, mit erlernten Verhaltensweisen, die den Anforderungen des Arbeitsmarktes nicht entsprechen. Gerd Wenzel: "Förderprogramme setzen häufig nur an einem Problem an und berücksichtigen die Komplexität von Armut zu wenig. So wäre es zum Beispiel vernünftig, arbeitslosen Jugendlichen nicht nur eine Ausbildungsstelle zu verschaffen, sondern sie gleichzeitig auch in ihrer sozialen Kompetenz zu fördern und zu begleiten." Viele Förderprogramme seien zudem zeitlich zu kurz. Nur wenige laufen für mehrere Jahre und bieten damit eine zuverlässige langfristige Perspektive.
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