Als Merkel die Grenze öffnete

  30 Auqust 2016    Gelesen: 471
Als Merkel die Grenze öffnete
Tausende Flüchtlinge kommen im Sommer 2015 nach Europa. Angela Merkel sagt "Wir schaffen das" und trifft kurz danach eine der folgenreichsten Entscheidungen, die je ein Bundeskanzler getroffen hat.
Es ist der 15. Juli 2015, als die Kanzlerin in Rostock mit Schülern diskutiert. Die 15-jährige Palästinenserin Reem erzählt über ihre unklare Bleibeperspektive, ihre Angst vor der Abschiebung. Angela Merkel reagiert kühl. Es könnten nicht alle nach Deutschland kommen, manche müssten zurückgehen. Das Mädchen bricht in Tränen aus. Wenn es um Merkels Haltung in der Flüchtlingspolitik geht, wird später gern auf diese Episode verwiesen. Schon Anfang 2015 weisen die Prognosen daraufhin, dass bis Jahresende mehr Flüchtlinge kommen als im Vorjahr. Im April sterben in einer Nacht fast 1000 Flüchtlinge, weil ihr überladenes Boot auf dem Weg von Libyen nach Italien kentert. Im Frühsommer ist das griechische Schuldendrama noch das große Thema, aber das ändert sich bald. Am 19. August informiert Innenminister Thomas de Maizière Merkel, dass nicht wie bisher prognostiziert 450.000 Flüchtlinge in Deutschland erwartet werden, sondern 800.000.

Über die Ägäis kommen in diesen Tagen täglich Tausende Flüchtlinge mit der Hilfe von Schleppern nach Griechenland. Über Mazedonien und Serbien, die Balkan-Route, gelangen sie nach Ungarn. Mitte August staut sich der Strom in dem vom rechtskonservativen Präsidenten Viktor Orbán regierten Land. Am 21. August hebt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die sogenannten Dublin-Regeln für Syrer auf. Flüchtlinge sollen vorerst nicht mehr dorthin zurückgeschickt werden, wo sie erstmals europäischen Boden betreten haben. Der Vermerk verbreitet sich schnell, obwohl er noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Die britische Zeitung "Independent" titelt: "Deutschland öffnet seine Tore". In der sächsischen Stadt Heidenau demonstrieren Bewohner in diesen Tagen gegen ein Flüchtlingsheim. Als Merkel am 26. August zu Besuch in Heidenau ist, wird sie als "Volksverräterin" und "Hure" beschimpft.

Einen Tag später nimmt die Kanzlerin in Wien an einer Westbalkankonferenz teil. Mittags wird die Sitzung aus aktuellem Anlass unterbrochen. Auf der Autobahn in Wien findet die Polizei einen LKW, in dem 71 Flüchtlinge erstickt sind. Kurz darauf, am 31. August, gibt Merkel ihre jährliche Sommer-Pressekonferenz. Erstmals nennt sie die Zahl 800.000 öffentlich. Deutschland sei für viele Menschen auf der Welt ein Sehnsuchtsort, sagt sie. Die Flüchtlingskrise vergleicht sie mit dem Atomausstieg, der Wiedervereinigung und der Finanzkrise. "Wir schaffen das, und wo uns etwas im Weg steht, muss es überwunden werden", sagt sie kämpferisch. Merkel versucht die Deutschen auf das vorzubereiten, was da kommt. Dabei steht der Höhepunkt erst noch bevor.

Knapp tausend Kilometer südöstlich gerät die Lage unterdessen außer Kontrolle. Ungarn baut an einem Zaun der Grenze zu Serbien, dennoch kommen täglich neue Flüchtlinge. Zehntausende sitzen fest, die Lager sind überfüllt, es gibt kaum etwas zu essen und nur schlechte hygienische Bedingungen. Das deutsche Fernsehen zeigt Bilder von Flüchtlingen am Budapester Bahnhof, die "Merkel, Merkel" rufen. Am 1. September lässt Orbán die ersten ausreisen. Bis Mitternacht kommen bis zu 600 in München an. "We love you, Germany", rufen sie bei ihrer Ankunft.

Orbán sieht die Flüchtlingskrise als deutsches Problem

Ungarn sei ein Land der Christen und wolle keine Muslime, sagt der ungarische Präsident. "Das Problem" sei kein europäisches, sondern ein deutsches. Am Tag zuvor war das Foto des dreijährigen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi um die Welt gegangen, wie er tot an einem türkischen Strand liegt. Ein deutsches Problem? Orbán jedenfalls trägt dazu bei, die Flüchtlingskrise zu einem deutschen Problem zu machen, indem er die Flüchtlinge nach Deutschland durchwinkt. Die Autobahn entlang und auf Bahngleisen laufen Tausende Richtung Grenze. Die Regierung in Budapest bietet an, die Flüchtlinge in Bussen dort hinzubringen. Merkel wird am Abend des 4. September vom österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann alarmiert, Flüchtlinge seien auf dem Weg zur Grenze.

Die beiden entscheiden, die Grenzen zu öffnen. Ganz unbürokratisch. Auf Kontrollen und Registrierungen wollen sie vorerst verzichten. Es soll darum gehen, Panik und schlimme Bilder zu vermeiden, auch darum, Länder wie Ungarn zu entlasten. Beide sind der Ansicht, die Flüchtlinge wären nur mit Gewalt zu stoppen, und dazu sind sie nicht bereit. Merkel spricht an diesem Freitagabend mit drei Regierungsmitgliedern: mit Kanzleramtschef Peter Altmaier und Bundesinnenminister Thomas de Maizière von der CDU sowie mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier von der SPD.

Sie versucht auch, CSU-Chef Horst Seehofer zu erreichen, aber ohne Erfolg. Gegen Mitternacht macht Faymann die Entscheidung öffentlich. Um 0.42 Uhr meldet die Deutsche Presse-Agentur: "Die aus Ungarn kommenden Flüchtlinge können nach Österreich und Ungarn einreisen." Ein Sprecher der deutschen Bundesregierung bestätigt es kurz darauf. Mit dem Hinweis: "Wir haben jetzt eine absolute Notlage bereinigt." Seehofer ruft die Kanzlerin am nächsten Morgen gegen 8 Uhr zurück. Er sagt ihr, dass er die Entscheidung für einen Fehler hält. Später erzählt er, Merkel habe ihm geantwortet: "Da bin ich jetzt aber zutiefst betrübt, dass du das so siehst." In einer Telefonkonferenz des CSU-Vorstandes sagt Seehofer, die Kanzlerin habe sich "leider im Alleingang für die Vision eines anderen Deutschland" entschieden. Es ist der Anfang des Bruches zwischen ihm und Merkel, der bis heute nicht gekittet ist.

In München treffen an diesem Samstag im Stundentakt Züge ein. Bis Sonntagnacht werden etwa 20.000 Menschen gezählt. Sie werden mit Applaus empfangen. Die Bahn setzt Sonderzüge ein, um den Transport zu bewältigen. Die Bundesregierung ist an diesem 5. September bemüht, darauf hinzuweisen, dass es sich um eine Ausnahme handelt. Beim Außenministertreffen in Luxemburg sagt Außenminister Steinmeier: "Die Hilfe in der gestrigen Notlage war verbunden mit der dringenden Mahnung dafür, daraus gerade keine Praxis für die nächsten Tage zu machen." Die Diplomaten diskutieren über eine Regelung für eine faire Verteilung, aber vor allem die osteuropäischen Staaten stellen sich quer.

Am nächsten Tag kommen auch in Dortmund, Braunschweig und anderen Städten Flüchtlinge an. Notquartiere werden errichtet, auch Turnhallen, Container und Gebäude der Bundeswehr dienen als Unterkunft. Am 8. September empfängt Merkel den schwedischen Regierungschef Stefan Löfven. Die beiden, deren Länder die meisten Asylbewerber aufnehmen, fordern einen festen Verteilungsschlüssel für alle 28 EU-Staaten. Am 10. September besucht die Kanzlerin eine Erstaufnahme der Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Spandau. Flüchtlinge machen Selfies mit ihr – Bilder, über die später Politiker aus Union und SPD mit den Zähnen knirschen, weil sie von Menschen in fernen Ländern als Einladung interpretiert werden könnten, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen.

Noch ist die Mehrheit auf Merkels Seite

Zwischen Ende August und dem 13. September sind bereits 63.000 Flüchtlinge in München angekommen. Stündlich übertreten 500 Menschen die Grenze. Innenminister de Maizière verkündet die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Es sei klar gewesen, dass die Ausnahme zeitlich begrenzt sei und es eine Rückkehr zu geordneten Verfahren geben werde, heißt es. Verkehrsminister Alexander Dobrindt von der CSU sagt: "Die Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht, dieses Signal muss unmissverständlich ausgesendet werden." Zu diesem Zeitpunkt ist die Mehrheit der Deutschen noch klar auf Merkels Seite: 66 Prozent sagen Anfang September dem ZDF-Politbarometer zufolge, die Entscheidung der Kanzlerin, die Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen, sei richtig gewesen.

Am 15. September kommt der österreichische Bundeskanzler Faymann nach Berlin, noch steht seine Regierung an Merkels Seite. "Ich bin dankbar, dass du bei dieser Entscheidung nicht zögerlich warst", lobt der Sozialdemokrat die deutsche Kollegin. In der gemeinsamen Pressekonferenz wird die Kanzlerin gefragt, ob sie es war, die den Ansturm mit ihrer Entscheidung ausgelöst habe. Merkel wird ungewohnt emotional: "Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land."

Ein Jahr später: Mehr als eine Million Menschen sind seit August 2015 über die deutsche Grenze gekommen. Inzwischen ist es meist nur noch eine zweistellige Zahl am Tag, jedem Zweiten wird die Einreise verweigert. Die Länder auf der Balkanroute haben ihre Grenzen geschlossen. Auch die Bundesregierung hat die Einreise erschwert, zudem war sie maßgeblich am Zustandekommen des Flüchtlingsdeals der EU mit der Türkei beteiligt.

In der Silvesternacht in Köln werden Frauen von Männern belästigt und vergewaltigt, die zum größten Teil aus den Maghreb-Staaten kommen. Im März liegt die AfD im Stern-RTL-Wahltrend erstmals über 10 Prozent. Im Juli 2016 werden in Deutschland zwei Terroranschläge verübt. Kritiker werfen der Kanzlerin vor, dass die Täter durch ihre Flüchtlingspolitik ins Land gekommen seien. Trotzdem wiederholt Merkel ihr "Wir schaffen das" auch bei ihrer Sommer-Pressekonferenz in diesem Jahr. Es ist ihr wohl gewagtester Satz, die Öffnung der Grenze die größte Entscheidung ihrer Kanzlerschaft. Fehler mag sie auch nachträglich nicht einräumen. Ob sie es wirklich schafft oder ob sie darüber stürzt – es ist auch ein Jahr später nicht absehbar.

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