Kosovo ist ein Projekt der EU – wieso kommen von dort so viele Flüchtlinge?

  31 Oktober 2015    Gelesen: 648
Kosovo ist ein Projekt der EU – wieso kommen von dort so viele Flüchtlinge?
Der Publizist Henryk M. Broder hat sich die Wahrnehmung des Kosovo in Deutschland und in der EU angesehen. Er kann verstehen, warum die Kosovaren ihr Land verlassen. Er versteht aber nicht, wie es soweit kommen konnte: Das Land ist EU-Beitrittskandidat.
Henryk Broder hat ein lesenswertes Tagebuch geschrieben, in dem er sich mit dem normalen Wahnsinn im politischen Deutschland beschäftigt. Im Februar vertraute Broder seinem Tagebuch seine Gedanken zum Kosovo an. Der Regierungschef des Kosovo, Isa Mustafa, unterzeichnete am Dienstag in Straßburg gemeinsam mit Vertretern der Europäischen Union ein sogenanntes Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen. Dieses soll Basis für eine engere politische, wirtschaftliche und handelspolitische Zusammenarbeit sein. Das ärmste Land auf dem Balkan will im Rahmen des Abkommens Standards und Rechtsvorschriften schrittweise an die der EU angleichen. Im Gegenzug könnte es zum Beispiel eine Liberalisierung der Visapolitik geben.

15. Februar

Liebes Tagebuch!

Ich schaue mir keine Kabarett- und keine Comedy-Programme im deutschen Fernsehen an, ich gucke nur noch Tagesschau und Tagesthemen, Heute und Heute-Journal. Vorgestern kam die bayerische Europa-Ministerin Beate Merk von einer „eiligen Reise“ nach Pristina zurück, der Hauptstadt des souveränen und von der EU mit Milliarden Euro gepäppelten Staates Kosovo, wo sie herausfinden wollte, was getan werden müsse, um die Flüchtlingswelle aus dem Kosovo in die EU, das heißt nach Deutschland, zu stoppen. „Was haben Sie herausgefunden?“, fragt Claus Kleber, und die Ministerin antwortet.

„Die Regierung [des Kosovo] hat mich gebeten zu helfen. Ihr Appell ist, dass wir sehr deutlich sagen, die Menschen, die aus dem Kosovo nach Bayern kommen, nach Deutschland kommen, werden hier kein Asyl bekommen können. [Das Kosovo] ist ein sicherer Staat, und deswegen ist kein Asyl für diese Menschen vorgesehen, wir müssen dafür sorgen, dass nach einer Entscheidung sie sofort in ihr Heimatland zurückgebracht werden, und für die Menschen bedeutet dass, dass sie sehr viel Geld aufwenden für nichts und wieder nichts und dass sie deswegen, auch wenn sie in den Kosovo zurückgeführt werden, vor den Scherben ihres Lebens stehen, sozusagen.“

Claus Kleber interveniert. „Das ist aber schon auch eine eigenartige Situation. Da bittet Sie eine Regierung in Pristina um Hilfe sozusagen, die Leute festzuhalten, das ist die Regierung eines Landes, das ein Geschöpf des Westens ist, das ohne die USA und Europa gar nicht existieren würde, und da hat offensichtlich eine Regierung geherrscht, die zehn Jahre lang nicht in der Lage war, Lebensbedingungen herzustellen, wo die Menschen bleiben wollen, und jetzt soll Deutschland sozusagen helfen, die Menschen im Land zu halten?“

Frau Merk tut so, als habe sie Klebers Frage nicht verstanden. „Diese Regierung ist sozusagen noch ganz jung im Amt. Und mir hat der Premierminister gesagt, natürlich haben wir eine Informationskampagne gestartet, aber es ist wichtig, dass auch aus dem Land, das das Ziel unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger ist, ganz klare Appelle und ganz klare Fakten noch mal transportiert werden, denn hier werden, über welchen Weg auch immer, teilweise über soziale Netzwerke, die Menschen schlichtweg fehlinformiert, da müssen wir gegenhalten.“

Claus Kleber greift wieder ein. „Aber sie haben ja auch Gründe wegzugehen, sie gehen ja nicht nur nach Deutschland, sondern sie gehen auch weg von dort. Haben Sie nicht auch Verständnis für jemand, der jetzt Ende 20, Anfang 30 ist, eine Familie aufbauen will und merkt, der ist arbeitslos und wird es immer bleiben? Er hat keinerlei Perspektive, und die Flucht nach Deutschland ist dann für viele die einzige Chance, die sie in diesem maroden Land sehen.“

Frau Merk: „Dieses Land ist dabei aufzuarbeiten. Die Regierung ist dabei, die Wirtschaft zu erstärken. Da braucht man natürlich auch die Menschen im Land, wenn das Land ausblutet, dann kann man politisch nichts mehr bewirken, deswegen ist es wichtig, dass die Menschen auch Solidarität zu ihrem Land zeigen und jetzt mitkämpfen.“

Spätestens an dieser Stelle denke ich, das ist nicht Beate Merk, das ist Carmen Geiss. Oliver Welke hat sich als Claus Kleber verkleidet, und ich sehe nicht das Heute-Journal, sondern die Heute-Show. Der Mann, der so tut, als wäre er Claus Kleber, fragt: „Ist Bayern denn darauf eingestellt, so wie jetzt, Tausende kommen innerhalb eines Monats, genauso schnell Tausende wieder zwangsweise zurückzuschaffen?“

„Wir haben sehr große Schwierigkeiten gehabt, die Menschen überhaupt unterzubringen“, antwortet die Frau, die Beate Merk so täuschend ähnlich sieht, „wir mussten unseren Winternotfallplan in Kraft setzen, und wir müssen jetzt nach und nach, und es geht ja nicht von heute auf morgen, dass die Asyl-Entscheidungen kommen, die Menschen wieder zurückbringen.“

Die Menschen. Und ich hatte schon gedacht, es würde sich um Stückgut handeln. Welke-Kleber vermutlich auch: „Nun gibt es ja den Drang, dass man nun Kosovo auch als sicheres Herkunftsland definiert und damit die Abschiebeverfahren beschleunigt. Nun liegt aber die Erfahrung vor, das hat man mit Serbien gemacht, und die Asylbewerberzahlen von Serbien sind weiter angestiegen. Ist das nicht ein politisches Feigenblatt, was da heute angestrebt wurde?“

Ich wäre wirklich der Letzte, der sehen möchte, was sich unter dem Feigenblatt von Frau Merk verbirgt, aber auf die Antwort war ich schon gespannt: „Ich glaube das nicht so. Ich glaube, dass es ein ganz wichtiges Signal ist und dass es noch mal ein Signal ist, das wir den Menschen im Kosovo zurufen: Euer Land ist sicher, und Asylrecht ist etwas anderes! Asylrecht ist wirklich für die Länder, wo man sagen muss, in diesem Land kann man nicht bleiben, ohne Angst zu haben, dass Familie verloren geht, dass das Leben in Gefahr ist und vieles andere mehr. Für diese Fälle ist das Asylrecht da, und das muss man, meine ich, sehr stark differenzieren, und deswegen ist es, meines Erachtens, ein sehr wichtiges Signal.“

Nach dieser Definition des Asylrechts, das nicht für die Menschen, sondern für die Länder da ist, in denen man Angst haben muss, dass das Leben in Gefahr ist und vieles andere mehr, könnten zum Beispiel alle belgischen und französischen Juden Asyl in Bayern beantragen, demnächst auch die dänischen, schwedischen und österreichischen. Claus Kleber setzt zum Endspurt an: „Die Menschen dort werden das vielleicht als erbarmungslos empfinden. Denn sie wissen, wie miserabel die wirtschaftliche Lage in dem Land ist und dass so wenig Hoffnung ist. Nun sagt Deutschland, bei uns gibt’s auch keine.“

Das bayerische Carmen-Geiss-Double weist Welke-Kleber zurecht: „Ich sehe doch Firmen, die hier expandieren, ich sehe die Möglichkeiten, ich sehe auch die Möglichkeit, endlich auch wieder junge Menschen auszubilden in den Firmen. Langsam, ganz langsam wächst hier ein Pflänzchen heran, und deswegen meine ich, muss man das auch unterstützen. Es ist viel wichtiger, sich dort aktiv zu betätigen und zu helfen, dass junge Menschen in Arbeit kommen, dass junge Menschen Bildung bekommen, dass die Infrastruktur stärker ausgebaut wird, dass die Energie sicherer gegeben werden kann.“

Jetzt sind alle Zweifel verflogen. Das muss Carmen Geiss sein! Gleich wird sie „Robert, wo bleibt der Heli? Wir müssen nach Kosovo, die brauchen dort Energie!“ rufen, und dann wird Robert auftauchen und sagen: „Aber Schatzi, wir müssen vorher noch nach Cannes, ich hab ’nen neuen Ferrari bestellt!“ Claus Kleber aber, den ich in diesem Moment wirklich bewundere, will es noch einmal wissen. „Wird Bayern dabei helfen? Wird Europa dabei helfen, mehr als bisher?“

„Ja“, sagt Carmen-Beate Geiss-Merk, „Europa hilft dabei, Bayern hilft dabei auch, wir haben Projekte, und ich bin überzeugt, dass wir hier noch mehr tun können, ja!“ – „Danke schön“, sagt Claus Kleber.

Liebes Tagebuch, und dann wollte ich noch wissen, um welche „Projekte“ es sich handelt, und habe einfach die Homepage der EU-Vertretung in Kosovo besucht: Sehr zu empfehlen. Dort habe ich erfahren, dass es nicht nur einen „European Union Special Representative in Kosovo“ gibt, sondern dass 18 EU-Staaten Vertretungen in Kosovo unterhalten, außerdem seien „zahlreiche NGOs aus EU-Staaten in Kosovo aktiv“. Das heißt, Kosovo ist ein Projekt der EU, das die Mitarbeiter der staatlichen Vertretungen und der NGOs mit gut bezahlten Arbeitsplätzen versorgt. Seit 1999 habe Kosovo mehr als zwei Milliarden Euro von der EU erhalten. Ist das nicht irre?

Wofür das Geld ausgegeben wurde, wird nur angedeutet, unter anderem für die Förderung einer „nachhaltigen ökonomischen Entwicklung“ und die Absicherung der „europäischen Zukunft des Kosovo“. Denn wenn die Kosovaren die Wahl hätten, würden sie sich möglicherweise für eine amerikanische oder asiatische oder gar russische Zukunft entscheiden. Und das will die EU verhindern. Daneben gibt es auch andere Projekte, die von der EU unterstützt werden. Unter anderem „Kultur für alle – Phase III“. Oder einen Videowettbewerb für 13- bis 15-Jährige zum Thema: „Was bedeutet ein vereintes Europa für Dich?“

Doch statt sich an diesen Projekten zu beteiligen und die europäische Zukunft des Kosovo zu sichern, machen sich Tausende von Kosovaren auf den Weg nach Deutschland, um dort ihr Glück zu finden, nicht an der Peripherie, sondern im Herzen der EU oder, genauer, in deren Schatzkammer. Was man den Kosovaren nicht verdenken kann, denn die EU stellt sich als eine Art irdisches Paradies dar, in dem rund um die Uhr Milch und Honig fließen und Esel Dukaten scheißen. Und weil 18 Vertretungen der EU-Staaten und der „European Union Special Representative in Kosovo“ nicht in der Lage sind, dieses Bild zu korrigieren, muss Beate Merk aus Bayern einfliegen, um den Kosovaren zuzurufen, dass das Kosovo „ein sicherer Staat“ ist und dass sie „Solidarität zu ihrem Land“ und zu ihrer Regierung zeigen sollen, zumal diese „noch ganz jung im Amt“ und deswegen für die Misswirtschaft ihrer Vorgängerinnen nicht verantwortlich ist.

Das ist so irre, wie es zuvor der Versuch war, die Armutswanderung zu leugnen und zu behaupten, aus Bulgarien und Rumänien kämen vor allem qualifizierte Kräfte wie Ärzte, Krankenschwestern und IT-Experten. Der einzige Unterschied zwischen den Migranten aus Bulgarien und Rumänien und dem Kosovo ist, dass die einen aus Ländern kommen, die schon in der EU sind, und die anderen aus einem Land, das in die EU reinwill. Die Regierung des Kosovo hat zwar noch keinen offiziellen Antrag auf Aufnahme in die Union gestellt, das Land gilt aber als „potenzieller Beitrittskandidat“. Und das gesetzliche Zahlungsmittel ist der Euro.

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