Gelungene Provokation

  15 November 2016    Gelesen: 570
Gelungene Provokation
San Marinos Pressesprecher hat einen offenen Brief an Thomas Müller und die deutsche Nationalmannschaft geschrieben. Sein Vorwurf: Arroganz. SPIEGEL ONLINE hat die zehn Thesen analysiert.
Ein Zitat und seine Folgen. Thomas Müller hatte nach dem 8:0-Sieg der deutschen Nationalmannschaft in der WM-Qualifikation über Gegner San Marino gelästert: "Mit professionellem Fußball hatte das nichts zu tun." Die Verletzungsgefahr auf dem schwer bespielbaren Platz sei "vielleicht nicht nötig" gewesen. Was man halt so sagt nach so einem Spiel.

Alan Gasperoni vom Nationalen Olympischen Komitee in San Marino nahm diese Vorlage dankend an und verwandelte sie mit einem offenen Brief, der Kritik an der Fußballelite und PR-Aktion zugleich ist. Liegt der Funktionär mit seinen Vorwürfen richtig? Die zehn Thesen im Schnellcheck.

1. "Das Spiel war nützlich, weil es gezeigt hat, dass du nicht mal gegen so dürftige Teams wie das unsere ein Tor schießen kannst. Und jetzt sag nicht, dass du nicht total angepisst warst, als (San Marinos Torhüter; die Red.) Simoncini verhindert hat, dass du zum Torschützen wurdest."

Erfüllt den Zweck der Provokation, eine gelungene Eröffnung. Gasperoni trifft gleich mit seiner ersten These Thomas Müllers wunden Punkt. Der WM-Torschützenkönig von 2010 traf bei der EM in Frankreich in sechs Spielen genau null Mal.

2. "Das Spiel war nützlich, weil es deinen Managern (lass es auch Beckenbauer und Rummenigge wissen) gezeigt hat, dass der Fußball nicht ihnen gehört, sondern all denen, die ihn lieben, ob ihr wollt oder nicht - darunter sind auch wir."

Gasperoni macht es sich hier zu leicht. Bei seiner Co-Anklage, gewürzt mit einer Prise Romantik, soll Müller als Mittler der Botschaft dienen, die sich eigentlich an zwei andere Figuren bei dessen Arbeitgeber FC Bayern München richtet und lautet: "Eure Gier macht den Sport kaputt, den wir lieben." Angeklagt sind Ehrenpräsident Franz Beckenbauer, gegen den wegen Geldwäsche und Untreue ermittelt wird, und der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge, vorbestraft wegen illegaler Einfuhr von Luxusuhren. Dankbare Opfer also. Ob Gasperoni bewusst war, dass er damit noch ganz andere Kräfte entfesselt haben könnte? Hans-Joachim Watzke, Geschäftsführer von Bayern-Rivale Borussia Dortmund, wird sich sicher bald dazu äußern.

3. "Es war nützlich, weil es Hunderten Journalisten aus ganz Europa gezeigt hat, dass es noch Jungs gibt, die ihren Träumen folgen und nicht euren Anweisungen."

Gleich doppelt steile These, die aber eine nähere Betrachtung verdient. Zunächst fällt auf, dass Gasperoni auf eine Differenzierung verzichtet. San Marinos Nationalspieler werden zu Träumern verklärt und als Antagonisten der Fußballgroßmächte (stellvertretend: Thomas Müller, FC Bayern, DFB et al.) positioniert, die per Dekret die Welt des Fußballs regieren. Da macht sich Gasperoni unnötig angreifbar, weil das eben nicht per Dekret passiert, sondern in Vereinigungen wie ECA, Fifa oder Uefa. Und ob das Beispiel mit den Hundertschaften Journalisten, die überall oft Teil des Geschäfts sind, so glücklich war?

4. "Es war nützlich, weil es gezeigt hat, dass ihr Deutschen euch nie ändern werdet und dass die Geschichte euch nicht gelehrt hat, dass Überheblichkeit nicht immer die Garantie für den Erfolg ist."

Ein Argument, das immer geht, aber nicht besser wird, je öfter es eingesetzt wird. Zumal Thomas Müller wenig für DIE deutsche Geschichte kann. An der Stelle hätte er Müller lieber konkret dessen eigene Überheblichkeit vorwerfen sollen, wie etwa 2014, als Müller eine kolumbianische TV-Reporterin nach dem WM-Titel vor laufender Kamera veralberte.

5. "Es war nützlich, weil es 200 Jungs aus San Marino, die das Spiel verfolgt haben, geholfen hat, zu verstehen, warum ihre Trainer sie immer auffordern, ihr Bestes zu geben. Möglicherweise werden eines Tages all die Opfer, die sie gebracht haben, nicht entlohnt, indem sie gegen den Weltmeister spielen."

Leider viel zu pathetisch, um in der abgestumpften Profifußballwelt wirklich Gehör zu finden. An dieser Stelle bleibt nur der Aufruf an Herrn Gasperoni, beim nächsten Mal das Beste zu geben.

6. "Es war nützlich, weil es deinem Verband genutzt hat (und auch unserem), mit den Bildrechten Geld zu verdienen, das - abgesehen davon, dass es dir die Unannehmlichkeit entlohnt - dazu genutzt werden kann, Anlagen zu bauen für die Jugend aus deinem Land, für Fußballschulen und sicherere Stadien … . Unser Verband, da verrate ich dir ein Geheimnis, wird einen neuen Fu ß ballplatz in einem kleinen verlassenen Dorf bauen, das Acquaviva heißt. Du hättest den Platz mit sechs Monatsgehältern bauen können, wir machen das mit den Rechten an einem 90-Minuten-Spiel. Nicht schlecht, oder?"

Der Griff in die Klassenkampf-Kiste. Nice Move, würde man beim Pokern sagen. Geld in Projekte für den Nachwuchs zu stecken - das kommt in der Öffentlichkeit immer gut an. Großverdienern ihr Gehalt vorzuwerfen, absurderweise auch. Die größte Kritik hier ist aber eine stilistische: Herr Gasperoni, wenn Sie Gehör finden wollen, können Sie doch eine so wichtige These nicht mit einem Schachtelsatz beginnen!

7. "Es war nützlich, weil es einem Land, so groß wie ein Bereich deines Stadions in München, geholfen hat, aus gutem Grund in den Nachrichten zu sein, denn ein Fußballspiel ist immer ein guter Grund."

Man merkt, dass Gasperino langsam die Puste ausgeht. Müller kann beim besten Willen nichts für die Größe San Marinos und dürfte sich an diesem Punkt gefühlt haben wie die deutsche Eiche mit dem Borstenvieh.

8. "Es hat deinem Freund Gnabry genutzt, um für die Nationalelf aufzulaufen und drei Tore zu schießen. Jetzt kann er Werder nach einer Vertragserneuerung fragen und das Doppelte von dem verlangen, was er bis jetzt verdient hat."

Ganz witzig, aber ist Müller wirklich mit Gnabry befreundet? Und ist es nicht langsam mal gut mit der Kapitalismuskritik?

9. "Es war nützlich, weil es einigen ein wenig Traurigen aus San Marino geholfen hat, sich daran zu erinnern, dass sie eine echte Nationalmannschaft haben. Passiert sicherlich auch euch, die ihr fast perfekt seid, dass sich einer meldet, wenn ihr verliert, und anfängt zu nerven, oder?"

Diagnose: Tränendrüse leer. Übrigens: Der letzte, der Deutschland nach einer (der ganz wenigen) Niederlagen wirklich genervt hat, war Mario Balotelli 2012.

10. "Es hat mir gezeigt, dass ihr, auch wenn ihr die schönsten Adidas-Trikots tragt, trotzdem noch die seid, die drunter weiße Socken in Sandalen tragen."

Chapeau, ein echter Wirkungstreffer, zudem ideal am Ende platziert. Das bleibt hängen und trifft die Deutschen an einem ihrer wundesten Punkte: ihrer Stillosigkeit.

Quelle : spiegel.de


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