Der BGH musste sich mit dem Fall Oskar Gröning befassen, der im vorigen Jahr weltweit Aufsehen erregte. Der mittlerweile 95-Jährige hatte im KZ Dienst an der Rampe getan, um während der "Ungarn-Aktion" vom 16. Mai bis zum 11. Juli 1944 das Gepäck der ankommenden Juden zu bewachen. Ihm war klar, dass sie vergast werden sollten. Bei der "Ungarn"-Aktion deportierten die Nazis von Mai bis Juli knapp 440.000 ungarische Juden nach Auschwitz, etwa 300.000 wurden vergast.
Vier Jahre Haft für Oskar Gröning
Der als "Buchhalter von Auschwitz" bekannt gewordene Gröning zählte das Geld der Opfer und schickte es nach Berlin. Außerdem war es permanent seine Aufgabe, Widerstand oder Flucht von Deportierten mit der Waffe zu verhindern. Das Landgericht Lüneburg verurteilte ihn im Juli 2015 zu vier Jahren Haft - wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen.
Der BGH hat dieses Urteil bestätigt, damit ist es rechtskräftig. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten Ermittler Verfahren in der Regel eingestellt oder gar nicht erst eröffnet, wenn einem SS-Mann konkrete Taten nicht zugerechnet werden konnten. Nun hat der BGH einen Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung bekräftigt, der von Opfervertretern lang ersehnt war.
Rechtsanwalt Thomas Walther, der im Gröning-Prozess mehrere Nebenkläger vertrat, sagte SPIEGEL ONLINE, er sei froh. Erstmals sei auch höchstrichterlich festgestellt: "Jeder, der in Auschwitz am Massenmord mitgewirkt hat, ist schuldig." Über Jahrzehnte habe die Justiz "Strafverhinderung" betrieben, sagte Walther. Fortan sei es "juristisch einfacher, ehemalige SS-Männer anzuklagen und zu verurteilen".
Für eine konkrete Tat braucht es Zeugen, die sich erinnern, was nach mehr als 70 Jahren naturgemäß schwierig ist. Der Nachweis hingegen, dass ein Wachmann in Auschwitz war, ist vergleichsweise leicht zu erbringen.
Oberstaatsanwalt Jens Rommel, Leiter der zentralen Stelle der Länder zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, sprach von einer "ganz wichtigen Entscheidung" des BGH. Es sei nun klar, dass auch der einzelne Wachmann "für die systematische Mordmaschinerie von Auschwitz" mitverantwortlich gewesen sei.
Die neue Linie in der Rechtsprechung fand erstmals große Beachtung im Verfahren gegen John Demjanjuk. Das Landgericht München verurteilte den gebürtigen Ukrainer 2011 wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Juden im Lager Sobibor - auch wenn ihm eine Beteiligung an einer konkreten Tat nicht nachgewiesen werden konnte.
Rechtskräftig wurde das Urteil nie, weil Demjanjuk starb, bevor der BGH entscheiden konnte. Seither stand ein Votum des obersten deutschen Gerichts in einer vergleichbaren Frage aus. Rommel sagte, seine Behörde wolle nun auch das Wachpersonal anderer Lager überprüfen, sofern dort systematisch gemordet wurde. Dabei gehe es zum Beispiel um Buchenwald und Ravensbrück.
Fälle vor Gericht
Beeinflussen könnte der jüngste Richterspruch auch zwei weitere Verfahren, die bereits vor Gericht verhandelt wurden.
Das Landgericht Detmold verurteilte den früheren Auschwitz-Wachmann Reinhold Hanning im Juni zu fünf Jahren Gefängnis - wegen Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen. Als SS-Unterscharführer habe er zum Funktionieren der Mordmaschinerie beigetragen. Die Verteidiger haben Revision eingelegt.
In Neubrandenburg war im Oktober der Prozess gegen Hubert Z. geplatzt. Der 95-Jährige war Angehöriger des Sanitätsdienstes in Auschwitz-Birkenau, der Vorwurf lautet Beihilfe zum Mord in mindestens 3681 Fällen. Wegen des Gesundheitszustandes des Mannes ist fraglich, ob der Prozess erneut beginnen kann.
Ihren Ursprung hatten die Verfahren stets bei den Ermittlern in Ludwigsburg, die später die Akten an die örtlichen Staatsanwaltschaften weiterreichten.
Ob Oskar Gröning nun wirklich seine Haft antreten muss, ist ungewiss. Wegen der fehlenden Rechtskraft blieb er nach dem Urteil in Freiheit. Nun muss die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob er haftfähig ist.
Quelle : spiegel.de
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