“Tote Kinder sind Folge falscher Willkommenspolitik“

  04 November 2015    Gelesen: 590
“Tote Kinder sind Folge falscher Willkommenspolitik“
Bei Sandra Maischberger erteilt SPD-Vize Stegner den Transitzonen eine klare Absage. Der slowakische EU-Abgeordnete Sulík gibt der deutschen Politik die Mitschuld am Tod von Flüchtlingskindern.
In der Flüchtlingsfrage zeichnet sich eine neue Konfliktlinie ab. Waren die letzten Wochen noch von den Attacken der bayerischen CSU gegen die Schwesterpartei CDU geprägt, so scheint man in der Union mit dem gemeinsamen Positionspapier vom Wochenende zu alter Eintracht zurückgefunden zu haben.

Um den Frieden ist es in der Großen Koalition dennoch nicht gut bestellt. Die geplanten "Transitzonen im Landgrenzenverfahren", die bei der CSU für eine gewisse Besänftigung gesorgt haben, stoßen nämlich in der SPD auf offene Ablehnung. Von "Haftzonen" und "Internierungslagern" ist die Rede.

Die Sozialdemokraten plädieren stattdessen für sogenannte Einreisezentren im Landesinneren und möchten die Sozialleistungen für Flüchtlinge an deren Bereitschaft zur Registrierung koppeln.

Weitere Streitigkeiten in der Koalition vorprogrammiert

Der gegenwärtige Zwist wirkt, besonders in seinem Ausmaß, etwas konstruiert, denn die beiden Modelle sind nicht weit genug voneinander entfernt, um ihn zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass es sich im Augenblick eher um Schlagworte als um ausgereifte Konzepte handelt. Genau deshalb sehen viele in der Kontroverse den Vorboten für künftige Streitigkeiten zwischen SPD und Unionsparteien, beispielsweise beim Thema Abschiebungen.

SPD-Vize Ralf Stegner vermied bei Sandra Maischberger zwar heikle Bezeichnungen für die Transitzonen, die abschlägige Haltung seiner Partei bekräftigte er aber umso deutlicher. Die Moderatorin hatte zum Thema "Das Flüchtlingsdrama: Versagt die Große Koalition?" eingeladen.

Neben dem CDU-Urgestein Norbert Blüm, der "taz"-Journalistin Bettina Gaus und dem slowakischen Europaabgeordneten Richard Sulík war mit dem CSU-Mann Stephan Mayer auch der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion zu Gast.

CSU-Mann warnt vor "Offenbarungseid" des Staates

Mayer verteidigte die Einrichtung von Transitzonen und betonte, dass man weder Haftanstalten noch Internierungs- oder Massenlager errichten wolle. Gleichzeitig warnte er allerdings vor einem "Offenbarungseid" des Staates in Sachen Zuwanderungskontrolle und Grenzsicherung. "Diese Transitzonen sind kein Allheilmittel, aber sie sind ein wichtiger Mosaikstein bei der Bewältigung der großen Herausforderung, die wir derzeit an der bayerisch-österreichischen Grenze zu meistern haben", so der CSU-Abgeordnete.

Der Innenpolitiker zeigte sich sogar überzeugt, dass man die Transitzonen mit dem SPD-Vorschlag kombinieren könne und schlug vor, die Einreisezentren für jene bereitzustellen, "deren Verfahren intensiver geprüft werden muss".

Stegner ließ sich davon nicht überzeugen. Das Unionsmodell verfolge im Grunde das Ziel, "alle zurückzuschicken, die aus sicheren Drittstaaten kommen", konstatierte der Landesvorsitzende der SPD in Schleswig-Holstein. "Dieses System ist aber tot. Es kann nur durch europäische Solidarität ersetzt werden", fügte er hinzu und stellte unmissverständlich klar: "Wir machen keine Transitzonen an den Grenzen. Mit der SPD wird es das nicht geben". Erst gegen Ende der Sendung zeigte sich Stegner ansatzweise kompromissbereit und empfahl eine gemeinsame humane und praktikable Lösung jenseits von Symbolpolitik.

Insgesamt ließen sowohl Mayer als auch Stegner deutlich den Willen erkennen, sich – durchaus auch auf Kosten des anderen – in der Flüchtlingsfrage zu profilieren. Ex-Bundesminister Norbert Blüm mahnte die beiden "als alter Fuhrmann" denn auch zur "Abrüstung". Für die Handlungsfähigkeit der Regierung könnte ein solches Verhalten auf Dauer tatsächlich nichts Gutes bedeuten. Das für Donnerstag angesetzte Spitzentreffen zwischen Kanzlerin Angela Merkel, SPD-Chef Sigmar Gabriel und dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer darf jedenfalls mit Spannung erwartet werden.

Ist der Koalitionsstreit nur "Theaterdonner"?

Die Journalistin Bettina Gaus wiegelte allerdings ab und titulierte die Wortgefechte der Koalitionäre mehrfach als "Theaterdonner". Sie prophezeite eine baldige Übereinkunft und präzisierte: "Man wird es also offenbar nicht Transitzone nennen, man wird das Wort Haftanstalten vermeiden, man wird gewisse Begrüßungszentren an der Grenze machen, die vielleicht verfassungsrechtlich gerade noch haltbar sind".

Problematisch fand Gaus vielmehr die Signale, die durch solche plakativen Auseinandersetzungen in die öffentliche Debatte entsandt würden. Dadurch entstehe ein Klima, in dem "immer mehr Leute das Gefühl haben, rechtsextremistische Positionen seien vertretbar".

Schwere Vorwürfe gegen deutsche Regierung

Deutlich weiter, wenn auch aus entgegengesetzter politischer Stoßrichtung, ging der slowakische Europaabgeordnete Richard Sulík mit seinen Vorwürfen. Er bezichtigte die deutsche Politik allgemein des "Gelabers" und konkret der Mitschuld am Tod jener Flüchtlingskinder, die bei der gefährlichen Mittelmeerüberfahrt regelmäßig ums Leben kommen.

"Hundert tote Kinder. Das ist doch eine Folge jener humanistischen Politik, die den Menschen vorgaukelt, sie seien hier alle willkommen", so Sulík. Diese Anklage, die Norbert Blüm als "Unverschämtheit" und Ralf Stegner als "Zynismus" bezeichnete, war nur eine von vielen höchst kontroversen Äußerungen des Slowaken.

Sulík, der als Zwölfjähriger nach Deutschland einwanderte und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs als Erwachsener in die Heimat zurückkehrte, ist für seine unverblümte Ausdrucksweise bekannt. Er sitzt der slowakischen Partei Freiheit und Solidarität vor, die sich im Europaparlament der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) angeschlossen hat. Zu der EU-kritischen Gruppe gehören neben den britischen Tories unter anderem auch die deutsche AfD und die Parlamentarier von deren Abspaltung Alfa.

Merkels Verhalten "verfassungswidrig"

Mit der deutschen Regierung ging der EU-Abgeordnete selbst für seine Verhältnisse ausgesprochen hart ins Gericht. Die ganze Welt greife sich mit Blick auf die deutsche Politik der letzten zwei Monate an den Kopf. Und weiter: "Ein Land, das seine Grenzen nicht bewachen kann, wird von Weicheiern regiert."

Als nächsten Schritt schlug Sulík, der Merkels Vorgehen verfassungswidrig nannte, die Sicherung der EU-Außengrenzen und "Zentrallager" für Flüchtlinge außerhalb der Europäischen Union vor.

Die giftigen Parolen des Slowaken versuchte Norbert Blüm zu kontern, indem er die Flüchtlingsfrage zur europäischen Schicksalsfrage erhob. Die Zukunft des Kontinents hänge davon ab, dass man gemeinsam zu einer menschlichen Lösung finde. "Der Nationalstaat ist ein Projekt, das hinter uns liegt, und deshalb brauchen wir Europa", hielt der CDU-Politiker der wieder erwachenden Kleinstaaterei entgegen.

Helfer schlagen Abholung der Flüchtlinge vor

Wohltuend konkret wurde es erst, als mit dem stellvertretenden Bürgermeister der bayerischen Gemeinde Wegscheid, Lothar Venus, und dem Schweizer Michael Räber, der als Freiwilliger auf der Insel Lesbos aktiv ist, zwei Helfer zugeschaltet wurden.

Beide schilderten, ohne in Klagen zu verfallen, die prekäre Situation vor Ort und hatten dieselbe Idee. Sie schlugen vor, die Flüchtlinge mit Bussen bzw. Fähren direkt zum Zielort zu befördern, um Unglücke zu vermeiden und die Lage an den Grenzen zu entschärfen.

Es wäre viel gewonnen, wenn man sich neben dem üblichen politischen Geplänkel stärker darauf konzentrieren könnte, solchen Menschen mehr Gehör zu schenken und sie zu unterstützen, statt einfach nur Applaus zu spenden oder Reden zu schwingen. Schließlich ist aktuell ohne ehrenamtliches Engagement weder national noch europäisch eine Lösung möglich.

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