2013 war man in London weniger zurückhaltend. Den 300. Jahrestag des Friedens von Utrecht nahm Mays direkter Vorgänger David Cameron zum Anlass, wieder einmal eine Flottille nach Gibraltar in Marsch zu setzen. Vordergründig sollte sie an an das Vertragswerk erinnern, das 1713 den Spanischen Erbfolgekrieg gegen Frankreich und das mit ihm verbündete Spanien beendete. Denn der Siegpreis hatte es in sich: Neben Menorca und dem Monopol auf den Sklavenhandel mit den spanischen Kolonien in Amerika gewann England den Felsen von Gibraltar.
Allerdings ging es vor vier Jahren auch um mehr. Der Aufmarsch sollte zeigen, „dass wir kein Auge zudrücken, wenn die Menschen in Gibraltar bedroht oder unter Druck gesetzt werden“, wie es Camerons Europaminister formulierte. Es ging und geht um Fischereirechte, verschärfte Kontrollen gegen illegale Einwanderer und den Schulterschluss der – wie Michael Howard es ausdrückt – „spanischsprachigen Länder“ Argentinien und Spanien, im Streit um die Falklandinseln.
Man muss drei Jahrhunderte zurückgehen, um die innige Verbindung zwischen Großbritannien und der Felsenburg zu verstehen, die gerade einmal von 30.000 Menschen und einigen Dutzend Affen bewohnt ist. Es geht – in gänzlich anderen Dimensionen als im Fall der Falklands – um die Identität Englands und der „britischen“ Nation. Im 19. Jahrhundert zählten ihre Führer Gibraltar neben der Straße von Suez, den türkischen Meerengen und Singapur zu den wichtigsten Positionen des Empire. Von diesem ist nichts mehr geblieben außer dem Felsen, was einiges über seine Symbolkraft aussagt.
Schon der Krieg, der Gibraltar zu britischem Besitz machte, hat sich tief in die Erinnerung des noch Vereinigten Königreichs eingegraben. Im Spanischen Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714 führte England eine Koalition mit Österreich und den Niederlanden an, um den hegemonialen Bestrebungen Frankreichs Grenzen zu setzen. Herz dieses Bündnisses war bis zu seinem Tod 1702 Wilhelm III. von Oranien, in Personalunion König von England, Schottland und Irland und Statthalter der Niederlande. In der Glorious Revolution von 1688/89 hatte ihn das Parlament in London auf den Thron gerufen. Mit ihm begann das parlamentarische Königtum. Und mit dem Sieg der Aufstieg Großbritanniens zur Weltmacht.
Pikanterweise war es ein General im Dienst des Habsburger Kaisers, dem am 4. August 1704 die Eroberung der bis dahin spanischen Festung Gibraltar gelang. Prinz Georg von Hessen-Darmstadt hatte das Kommando über 1800 niederländische und englische Soldaten, denen sich die Besatzung ehrenhaft ergab, nachdem britische Schiffe die Verteidigungsanlagen in Trümmer geschossen hatten. Es heißt, der Prinz habe eine geniale Taktik angewandt, indem er seine Angriffe nicht auf den Morgen, sondern auf die Stunden der Siesta verlegt habe.
Alle Rückeroberungsversuche scheiterten
Umgehend versuchten die verbündeten Franzosen und Spanier alles, um die Felseninsel zurückzuerobern. Aber Prinz Georg behielt, obwohl hoffnungslos in Unterzahl, die Nerven, den Rest besorgte die überlegene englische Flotte. Nachdem der kaiserliche Gouverneur vor Barcelona den Soldatentod erlitten hatte, übernahm ein britischer Gouverneur in Gibraltar das Kommando. Und dabei ist es bis heute geblieben. Seit 1830 ist der Felsen britische Kronkolonie.
Mehrmals versuchten spanische Truppen seitdem, Gibraltar zu erobern. Im Englisch-Spanischen Krieg von 1727 bis 1729 belagerte eine Armee von rund 20.000 Mann die Festung. Ihnen standen zwar nur 3200 britische Soldaten gegenüber. Aber dazu auch die englische Flotte, die die Versorgung sicherstellte und die spanischen Stellungen beschoss. Nach knapp vier Monaten musste die Belagerung abgebrochen werden.
Zwischen 1779 und 1783 versuchten es spanische und französische Truppen mehrfach gemeinsam, wobei ein weiterer Bündnispartner die aufständischen englischen Kolonien in Nordamerika waren. Doch anders als in der Neuen Welt blieben die britischen Truppen siegreich, vor allem, weil es immer wieder großen Flotten gelang, die Blockade zu durchbrechen. Allerdings haben Historiker die kontrafaktische Frage gestellt, was wohl aus der Amerikanischen Revolution geworden wäre, wenn sich die Royal Navy mit aller Macht gegen sie hätte wenden können und nicht in Europa engagiert gewesen wäre.
Der dritte Kampf um Gibraltar fand unweit der Festung statt. Es war die Schlacht von Trafalgar gegen die vereinigte französisch-spanische Flotte Napoleons I. Der Sieg der Navy unter Admiral Horatio Nelson am 21. Oktober 1805 wurde zu ihrem berühmtesten Triumph und geradezu zur Begründung des – nach dem Verlust der nordamerikanischen Kolonien – „Zweiten Britischen Empire“, das schließlich ein Viertel der Erde umfasste.
Welche Bedeutung die große Festung am Eingang des Mittelmeers besaß, hatte Napoleon schon einige Jahre zuvor erfahren müssen, als 1798 eine britische Flotte unter Nelson vor Abukir seine Schiffe versenkte und damit seiner ägyptischen Expedition den Todesstoß versetzte. An dieser Schlacht setzte der deutsche Historiker Ludwig Dehio an, als er nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem Buch „Gleichgewicht oder Hegemonie“ (1948) die britische Politik einer klassisch gewordenen Analyse unterzog:
„Jetzt erst (mit Abukir; d. Red.) erwies sich die ganze weltgeschichtliche Bedeutung des Eindringens der Engländer in das Mittelmeer im Verlauf des Spanischen Erbfolgekrieges und ihrer zähen Verteidigung des Felsens von Gibraltar gegen die gewaltigsten Angriffe seitdem. Wenn irgendwo, so musste hier das unsichtbare Netz zerreißen, das eine bescheidene Anzahl hölzerner Kriegsschiffe, ausgesandt von einer schmächtigen und relativ volksarmen Insel, rings um die lebenstrotzende große Halbinsel Europa ausgespannt hatte. Aber das Netz hielt der Zerreißprobe stand. Dank Gibraltar drang Nelsons Flotte in das Mittelmeer ein.“
Heute hat es den Anschein, als stehe nach Englands Votum für den Brexit und der denkbar gewordenen Separation von Schottland und Nordirland der Affenfelsen und seine 30.000 der Krone treu ergebenen Untertanen für den letzten Rest an eine Selbstbehauptung, die Großbritannien noch geblieben ist.
Quelle : welt.de
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