Denn was in der syrischen Provinz Idlib geschehen ist, darüber wissen wir doch das Wichtigste: Mindestens 72 Menschen, berichtet die Nachrichtenagentur AFP, sind hier am Dienstagmorgen in der nordsyrischen Stadt Chan Schaichun gestorben, darunter 17 Frauen und 20 Kinder. Viele der Opfer hatten stark verengte Pupillen, sie hatten Schaum vor dem Mund, ein AFP-Reporter sah leblose Körper auf der Straße liegen, sah Menschen mit Atemnot und Krämpfen. Und es gibt Fotos von Opfern, von toten Kindern, äußerlich unverletzt, ermordet auf heimtückische Weise: Sie hatten keine Möglichkeit, sich zu schützen, keine Chance, sich in Sicherheit zu bringen.
Rituelle Empörung ohne Folgen
Die Bilder der Opfer werden jetzt vielfach "unerträglich" genannt, aber falls damit das darauf abgebildete Leid gemeint sein sollte, dann handelt es sich hierbei um eine Fehleinschätzung. Denn ganz offensichtlich ist dieses Leid sehr erträglich für die wenig betroffenen Betrachter weit weg von Syrien, anders ist es nicht zu erklären, dass schon über 400.000 Menschen im syrischen Bürgerkrieg sterben mussten, ohne dass die sogenannte Internationale Gemeinschaft es verhindern konnte oder wollte.
Stattdessen erleben wir die erneute Aufführung eines seit sechs Jahren, so lange der Bürgerkrieg andauert, gut eingeübten öffentlichen Rituals: Jetzt gilt es wieder mal, für einige Tage betroffen zu sein und zu fordern, dass das Töten ein Ende haben muss. Die westlichen Regierungen verurteilen den schlimmen Diktator Baschar al-Assad, aber zu mehr als einer empörten Verbalnote können sie sich nicht entschließen. Besonders bezeichnend ist die Reaktion des US-Präsidenten Donald Trump, der sich zwar per Erklärung über das Verbrechen an den Menschen von Chan Schaichun empört, dann aber deutlich mehr Energie darauf verwendet, den wahren Schuldigen zu identifizieren: seinen Amtsvorgänger Barack Obama.
Jetzt könnte Trump sich nützlich machen
Und fast möchte man Trump dieses eine Mal zustimmen, denn tatsächlich hat sich der damalige US-Präsident schuldig gemacht mit seiner Ankündigung im August 2012, der Einsatz von Giftgas sei eine "rote Linie", die nicht überschritten werden dürfe. Denn auf diese starken Worte folgte - nichts. Die hohle Drohung wurde so zur Einladung für Baschar al-Assad, weiter jedes Mittel einzusetzen, das er im Kampf um die Macht in Syrien für angemessen hält. Mehr als Ermahnungen hat er seither aus dem Weißen Haus nicht zu fürchten, wenn er Fassbomben und Giftgas gegen die Zivilbevölkerung einsetzen lässt.
Obama hat im Syrienkonflikt versagt, mit dieser wenig originellen Erkenntnis hat Donald Trump mal recht. Aber Barack Obama ist seit Anfang Februar nicht mehr Präsident, und der neue darf sich nicht damit begnügen, den alten zu kritisieren. Es wäre jetzt Trumps Chance, sich einmal nützlich zu machen und seine womöglich guten Beziehungen zur russischen Regierung dahingehend zu nutzen, Wladimir Putin davon zu überzeugen, dass er die Unterstützung Assads aufgeben muss, weil mit diesem Mann keine friedliche Zukunft für Syrien denkbar ist.
Tatsächlich weisen die jüngeren Signale aus Washington eher in die entgegengesetzte Richtung. Man müsse Assad als "politische Realität" anerkennen, sprach erst vor fünf Tagen Trumps Sprecher Sean Spicer, denn wichtiger sei es, den IS zu bekämpfen. Das klang so, als sei Trump ganz auf die russische Linie eingeschwenkt. Wahrscheinlicher ist es aber, dass der US-Präsident, wie bei so vielen anderen außenpolitischen Themen, keinerlei Linie verfolgt, weil er sich schlicht nicht dafür interessiert, was mit Menschen jenseits seines Horizonts geschieht. Das Produkt Frieden in Syrien scheint dem CEO der USA offenbar nicht profitabel.
Wegschauen geht nicht, mitmachen auch nicht
Jetzt soll immerhin der Sicherheitsrat beschließen, dass untersucht werden möge, wer für den Giftgasangriff verantwortlich ist - wenn die Vetomacht Russland eine solche Untersuchung nicht verhindert. Die Toten haben so oder so nichts davon, und neue Tote wird eine solche Untersuchung auch nicht verhindern können.
Allerdings ist auch der Vorwurf der Untätigkeit an die westlichen Regierungen Teil des immer gleichen Rituals. Denn was sollen sie denn tun? Soll man tatsächlich eine Koalition schmieden und einmarschieren in Syrien, um Baschar al-Assad zu entmachten und das Land zu befrieden? Wenn es denn so einfach wäre. Sollen sich Europäer und Amerikaner wirklich in einen Krieg begeben, der jetzt schon so unübersichtlich ist, dass kaum noch zwischen Gut und Böse unterschieden werden kann? Sollen sie in eine offene Konfrontation mit Russland gehen, das auf der Seite Assads kämpft? Sollen sie sich auf ein brandgefährliches Abenteuer einlassen, dessen Ausgang völlig offen ist? Wie viele der westlichen Militärinterventionen der vergangenen Jahre haben den Menschen in den betroffenen Ländern Frieden und Sicherheit gebracht? Keine. Und aus dieser Erfahrung heraus soll man jetzt einen neuen Kriegseinsatz starten?
Auf der anderen Seite: Kann die westliche Wertegemeinschaft, sofern es sie noch gibt und sofern Menschlichkeit zu ihren Werten zählen sollte, immer weiter schulterzuckend zusehen dabei, wie Tausende und Tausende Menschen auf grausame Weise sterben, ohne ihre Werte zu verraten, ohne ihre Seele zu verlieren?
Es ist ein schreckliches, ein unerträgliches Dilemma. Wer sich aber nicht entscheiden möchte oder kann zwischen dem Übel Assad und dem Übel Krieg gegen Assad, der muss den schrecklichen Krieg in Syrien weiter ertragen. Der muss die Bilder von toten Kindern weiter ertragen. Und der muss vor allem jeden Syrer und jede Syrerin, die es schaffen, dieser Hölle zu entkommen, mit offenen Armen empfangen und ihnen Hilfe und Schutz bieten. Vielleicht können wir den Krieg in Syrien nicht stoppen. Aber wir können den Flüchtlingen aus Syrien helfen. Das ist das Mindeste, was wir tun können. Vielleicht das Einzige.
Quelle : spiegel.de
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