Es gehört zur nordrhein-westfälischen Bildungspolitik, dass Kinder auch an Regelschulen die Sprache des Landes lernen können, aus dem ihre Eltern stammen. Die Grundschule Nordviertel in Essen, wo fast alle Kinder einen Migrationshintergrund haben, bietet freiwilligen Unterricht in Arabisch, Türkisch und Russisch an.
Der Unterricht richtet sich an Kinder, die diese Sprachen schon von zu Hause kennen. "Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass die Pflege der Herkunftssprache ein ausgezeichneter Beitrag zum Erwerb der deutschen Sprache ist", heißt es dazu auf der Homepage des Schulministeriums. 886 Lehrerstellen à 50.000 Euro sind dafür im aktuellen Haushalt eingeplant.
Ob es Kindern allerdings beim Deutschlernen hilft, wenn sie nebenbei auch noch Unterricht in ihrer Muttersprache bekommen, ist umstritten. "Der empirische Beweis dafür steht noch aus", sagt der Didaktikprofessor Hans Reich, der seit den Siebzigerjahren zum herkunftssprachlichen Unterricht forscht.
Die Bundesländer sind sich denn auch völlig uneins darüber, wie sie mit dem Thema umgehen. Bereits 1964 beschloss die Kultusministerkonferenz, dass es sinnvoll sein kann, "Kinder ausländischer Arbeitnehmer" auch in ihrer Muttersprache zu fördern.
Inzwischen gibt es in etwa der Hälfte der Länder entsprechenden Sprachunterricht, der in die Lehrpläne integriert und von Regelschullehrern gehalten wird. Manche Länder, wie Bayern und Baden-Württemberg, überlassen den Unterricht ganz den Konsulaten, die die Inhalte stellen und Lehrer im Herkunftsland rekrutieren. Mehrere Länder, wie Sachsen, Berlin oder Hamburg, fahren zweigleisig.
Heftige Kritik am Konsulatsunterricht
Insbesondere der türkische Konsulatsunterricht hat in den vergangenen Monaten zahlreiche Kritiker auf den Plan gerufen. Die türkische Regierung steht im Verdacht, Bürger auf der ganzen Welt bespitzeln zu lassen - auch in Schulen. Davon abgesehen findet der Konsulatsunterricht generell außerhalb der pädagogischen Verantwortung der Bundesländer statt. Methodik und Konzept müssen nicht abgesprochen werden.
"Wenn die von der Türkei ausgewählten Lehrkräfte dieses Angebot nutzen, um Kinder politisch zu beeinflussen oder gar zu indoktrinieren, müssen die deutschen Schulbehörden eingreifen", mahnte unlängst die Fraktion von CDU und CSU im Bundestag.
Doch auch der herkunftssprachliche Unterricht in eigener Verantwortung polarisiert: So wie einige Befürworter darin einen Weg zur Deutschförderung sehen, fürchten Kritiker im Gegenteil, dass er Kinder vom Deutschlernen abhalten könnte. Bayern hat diesen Unterricht vor zehn Jahren wieder eingestellt, weil man sich stattdessen lieber auf eine "Reduzierung der Defizite in der deutschen Sprache" konzentrieren wollte.
In Aziz Chabanis Klasse in Essen sind fast alle Kinder in Deutschland geboren, keine Sprache sprechen sie besser als Deutsch. "Ich bin zum Markt gegangen und habe gekauft: Banane, Zitrone, Apfel, Ananas ", sagt Hadi, zehn, zögernd auf Arabisch.
Hadis Eltern stammen aus dem Libanon, sie sprechen manchmal Arabisch mit ihm, aber er antwortet immer auf Deutsch. "Ich möchte besser Arabisch lernen, um meinen Eltern eine Freude zu machen", sagt er schüchtern.
Die elfjährige Ghazal kam vor einem Jahr aus Syrien. Zumindest für sie ist die deutsche Sprache noch neu. Doch es scheint sie keineswegs zu überfordern, dass sie nebenbei auch noch Unterricht in ihrer Heimatsprache bekommt. Im Gegenteil, es hilft ihr, in Deutschland anzukommen. "Ich finde es toll, dass wir hier Arabisch lernen können", sagt sie und strahlt.
Darum geht es auch ihrem Lehrer Chabani: um Motivation und um Anerkennung. "Die Kinder sollen sich hier wohlfühlen", sagt der 55-Jährige, der einst als Germanistikstudent aus Casablanca herkam. "Dann können sie sich am besten entfalten."
Forscher sind sich zumindest darin einig, dass es nicht hinderlich fürs Deutschlernen ist, wenn Kinder nebenbei auch noch andere Sprachen lernen. "Niemand fragt, ob Biologie oder Latein dem Deutscherwerb schaden. Warum also gerade Türkisch?", sagt Rosemarie Tracy, Linguistin an der Universität Mannheim. "Das kindliche Gehirn wird vom Sprachenlernen nicht überfordert."
Zudem könne es das Gefühl und das Verständnis für Sprache fördern, wenn man sich nicht nur einer von ihnen widmet, sagt die Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin.
Es sei auch kein Nachteil für das Lernen, wenn zweisprachige Kinder in Deutsch einen kleineren Wortschatz hätten als Kinder, die keine Fremdsprache lernen. "Ihr Wortschatz ist größer, er verteilt sich nur auf zwei Sprachen", sagt Gogolin. "Schulen sollten das als Vorteil anerkennen und nicht zu einem Nachteil werden lassen."
Kinder sollten allerdings auch in ihrer Herkunftssprache so unterrichtet werden, wie sie es aus der Schule gewohnt seien, sagt Gogolin. "Der Unterricht bringt kaum etwas, wenn er nicht in die Konzepte an Regelschulen eingebunden ist."
Lehrer Chabani hat Glück, wie er selbst findet: Er hat an seiner Schule einen eigenen Klassenraum. Bunte Schilder mit arabischen Buchstaben hängen dort an der Wand - und ein Plakat mit drei Regeln: "aufzeigen, zuhören, leise sein". Auf Arabisch und auf Deutsch.
Quelle : spiegel.de
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