Zu Beginn des Jahres herrschte in Berlin noch Angststarre, dass Russland und die USA wieder einen guten direkten Draht finden und Probleme wie in Syrien oder in der Ukraine selbst regeln könnten. Das hätte Merkels Führungsrolle bei den Minsker Verhandlungen untergraben. Gerade im Ukraine-Konflikt ist die Bundeskanzlerin wohl die wichtigste internationale Vermittlerin. Selbst US-Präsident Barack Obama hatte sie dort mehr oder weniger schalten und walten lassen. Inzwischen deutet jedoch nur noch wenig darauf hin, dass sich Trumps Russlandpolitik von der seines Vorgängers unterscheiden wird. Es sei denn, das Eis zwischen den beiden Präsidenten kann wirklich auf persönlichem Level, zum Beispiel in Hamburg, gebrochen werden.
Merkel als „Garantin des Friedens“ in der Ostukraine
Wenn Washington das Thema Ukraine weiterhin Berlin überlässt, würde dies auf der einen Seite Merkels außenpolitisches Prestige stärken. Allerdings ist Minsk II praktisch zum Stillstand gekommen, so dass die Kanzlerin jetzt vielleicht doch auf ein Eingreifen der USA setzt, sei es, um Druck auf Kiew auszuüben, oder aber, um Moskau etwas vorzuschlagen, was die EU nicht im Angebot hat. Zu viel Nähe zwischen Moskau und Washington wäre nicht gut für die harte Russlandlinie Berlins und Brüssels. Totales Schweigen würde allerdings wohl keinen Fortschritt in der Ukraine bringen, da die westlichen Verhandlungspartner langsam nicht mehr wissen, wie sie das Minsker Format am Leben erhalten können.
Alexander Rahr, Russland-Experte und Vorstandsmitglied des Deutsch-Russischen Forums (DRF), bezeichnete im Sputnik-Interview die Ukraine als ein Hauptthema des Treffens in Sotschi: „Merkel ist, ob sie das jetzt will oder nicht, als Bundeskanzlerin eine Garantin des Erfolgs des Friedensprozesses in der Ost-Ukraine – oder eben des Misserfolgs. Sie hat ihn begonnen, das war ihre Idee, sie hat den französischen Präsidenten François Hollande damals am Arm genommen und ihn nach Minsk geführt, wo dieser Prozess mit der russischen und der ukrainischen Seite eingeleitet worden ist. Ein Zusammenbruch dieses Prozesses wäre ein Verschulden Merkels.“.
Wie sind die Erwartungen in Russland an den Besuch Merkels? Der Politikwissenschaftler Alexej Muchin, Direktor des Zentrums für politische Information in Moskau, erwartet keine neuen Impulse für die beiden größten Zankäpfel zwischen dem Westen und Russland – Syrien und die Ukraine. „Im Moment liegt es nicht in Deutschlands Interesse, viel Aufheben um diese Fragen zu machen“ meinte Muchin gegenüber Sputnik. „Sowohl in Syrien als auch in der Ukraine ist die europäische Politik äußerst erfolglos gewesen.“
Angeblicher russischer Einfluss auf Bundestagswahl „Mumpitz“
Martin Hoffmann, Geschäftsführer des DRF, denkt, dass die Kanzlerin in Sotschi in erster Linie zeigen will, wer in Deutschland das Sagen hat, wenn es um Außenpolitik geht: „Die Reise soll primär die Deutungshoheit der Kanzlerin in Fragen der Außenpolitik zeigen. Nachdem eine Reihe anderer deutscher Politiker in letzter Zeit bei Putin zu Besuch waren, ist es wichtig, dass die Kanzlerin nun selbst reist.“
Manche, allen voran der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg Maaßen, befürchten, dass Russland sich in den deutschen Wahlkampf einmischen könnte. Will sich Merkel eventuell bei diesem Besuch persönlich dagegen absichern? Der Politologe Peter Schulze von der Universität Göttingen hält das für „Mumpitz und kalten Kaffee“, wie er im Sputnik-Interview sagte. „Da wird die Prognose in die Welt gesetzt, wenn es uns denn schlecht erwischen sollte bei der Wahl am 24. September, sind natürlich die Russen Schuld. Das ist so lächerlich. Russland ist im Moment so eine Art von Monstrum, in dessen Nähe man sich nicht begeben will.“ Schulze zeigte sich sicher: „Eine Wahlkampfeinmischung von russischer Seite wird es jedenfalls nicht geben.“
Auf der Habenseite gibt es trotz Einbrüchen noch immer gute Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und Deutschland. Eine Sache, von der beide Seiten profitieren. Idealisten hoffen bei diesem Besuch auf einen Neustart für die deutsch-russischen Beziehungen. So könnte zum Beispiel die von beiden Seiten oft erwähnte Idee eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes von Lissabon bis Wladiwostok wieder aufgegriffen werden. Der Göttinger Politologe Schulze hält jedoch die Zeit dafür noch nicht gekommen: „Lissabon bis Wladiwostok wird schon irgendwann kommen. Das ist aber wohl mehr eine zeitliche als eine politische Frage. Der Handel könnte sofort wieder aufblühen, wenn die Finanzrestriktionen durch die Sanktionen fallen würden. Ich war sowieso überrascht, wie wenig Widerstand es von der deutschen Wirtschaft gegen die Sanktionen gab. Aber so kann das nicht weitergehen. Die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland sind praktisch die letzte Brücke, die wir noch haben.“
Westen braucht strategische Kooperation mit Russland
Der Experte erwartet nicht viel von Merkels Besuch in Moskau: „Höchstens eine gewisse Auflockerung, aber kein wirkliches Abschmelzen der vereisten Beziehungen. Merkel hat nicht viel Neues anzubieten in Moskau. Wenn sie dagegen ein flexibles und kreatives Nachdenken über das Sanktionsregime auf die Agenda setzen würde, würde das bestimmt auch zu positiven Handlungen auf der russischen Seite führen. Daran glaube ich aber nicht.“
Der Russland-Experte Rahr setzt ebenfalls auf die Wirtschaft: „Von Nöten ist jetzt eine Zusammenarbeit der EU mit der immer stärker werdenden Eurasischen Union. Die Welt steht vor einem Nord-Süd-Konflikt. Diesen kann der Westen nur in strategischer Kooperation mit Russland meistern.“ Rahr erinnerte daran, dass der Ost-West-Konflikt längst Geschichte sei und eine Mehrheit der Europäer sich eine Normalisierung mit Russland wünscht.
Der russische Politikwissenschaftler Muchin geht davon aus, dass die Kanzlerin ihre bisherige Haltung nicht ändern wird, auch mit Blick auf die Wahl zuhause: „Es ist klar, dass Angela Merkel nun zeigen muss, dass alles, was sie bis jetzt getan hat, politisch sinnvoll war. Dabei muss sie eine harte Haltung gegenüber Wladimir Putin einnehmen … Später, nach ihrer Wahl, wird Angela Merkel möglicherweise ihre Feindseligkeit gegenüber Russland verringern und diese geschäftlich gesehen sinnlose Konfrontation abbauen.“
Win-Win-Situation für die Bundeskanzlerin
DRF-Geschäftsführer Hoffmann erwartet dagegen eine nicht so harte Haltung der Kanzlerin:
„Ich denke, dass das Thema Russland jetzt im Wahlkampf eher eine geringe Rolle spielen soll, um dieses Thema nicht eskalieren zu lassen. Für den Wahlkampf wäre das eher schlecht. Es soll durch diesen Besuch eher deutlich gemacht werden, dass trotz allem der Gesprächsfaden nicht abreißt und mit Merkel kontinuierliche Politik möglich ist und sie auch zu Putin einen Draht hat.“
Für ihre Außenwirkung gen Westen ist diese Reise für die Bundeskanzlerin eigentlich eine Win-Win-Situation. Sie kann demonstrieren, dass sie weiterhin den Dialog mit Moskau sucht, aber gleichzeitig bei ihrer harten Linie bleibt. Damit würde sie den Russlandkurs der Nato spiegeln und ihre Parteianhänger beruhigen. Es ist unwahrscheinlich, dass Merkel vor der Wahl noch Experimente in ihrer bewährten Politik des Aussitzens riskiert. Auch Moskau erwartet anscheinend im Moment keine großen Signale aus Berlin. Zumal der Kreml inzwischen seinen Blick wirtschaftlich und politisch vom „Fenster nach Europa“ zu einem 360-Grad-Panoramablick gewandelt hat.
Armin Siebert
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