Stalins Held, Hitlers General

  28 April 2017    Gelesen: 1322
Stalins Held, Hitlers General
Mitten im Zweiten Weltkrieg wechselte ein Held der Roten Armee zu den Nazis. General Wlassow befehligte ein Heer übergelaufener Russen, das mit dem "Dritten Reich" unterging. Was trieb ihn an?
Im Russischen gibt es ein Synonym für das Wort "Verräter". Es lautet "Wlassow".

Generationen von Russen wurden im Hass auf den Mann erzogen, der im Volksbewusstsein den allertiefsten Sturz erlebte. Andrej Andrejewitsch Wlassow, das war einerseits der hochdekorierte "Held von Moskau", dem es 1941 in der Schlacht vor der Hauptstadt gelungen war, als erster General der Roten Armee deutsche Divisionen zum Rückzug zu zwingen.

Und Wlassow, das war anderseits der verachtete General, der 1942 in deutsche Gefangenschaft geriet und sich dann mit dem Todfeind verbündete, um Stalin zu stürzen. Wie kam es dazu?

Zügig hatte der Bauernsohn es weit gebracht, vom einfachen Soldaten bis zum Oberbefehlshaber. Er war langjähriges Mitglied der "Allrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiki" und galt nach seinem Triumph vor Moskau als Stalins Günstling.

Die Lehre aus der Wolchow-Schlacht

Doch nur ein paar Monate darauf kam es in der Schlacht am Fluss Wolchow östlich des belagerten Leningrads zu einem Schlüsselerlebnis, wie der General später erzählte. Denn die sowjetische Offensive, die Leningrad befreien sollte, war im Frühjahr 1942 ins Stocken geraten und Wlassows 2. Stoßarmee von den Deutschen zeitweise eingekesselt worden. Die Tage im Kessel empfand der General als einschneidend: Sie zeigten ihm Stalins Starrsinn, der Zehntausenden Soldaten das Leben kostete, so sagte er später. Den Rückzug habe Stalin viel zu spät erlaubt.

Wlassow hätte aus dem Kessel ausfliegen dürfen, lehnte jedoch ab: Während er sich halbverhungert zehn Tage lang vor den Deutschen versteckte, habe er begriffen, dass Stalin der "Hauptfeind des russischen Volkes" war. Bald träumte Wlassow von einem neuen Russland, befreit von der Herrschaft der Bolschewisten.

Am Wolchow begann also das neue Leben des roten Generals. Im Juli 1942 geriet er in deutsche Gefangenschaft, wurde Ende 1942 in ein "russisches Führungszentrum" der Wehrmacht überführt - und entschied sich zur Kollaboration.

Seine Motive legte er in einem Brief dar: Das russische Volk habe "nichts von dem erhalten, wofür es in den Jahren des Bürgerkrieges kämpfte". Er selbst habe miterlebt, wie "Millionen verschwanden, arretiert wurden und alles Russische zertreten wurde". Keine Familie sei von Stalins Terror verschont geblieben.

Abschaffung von Zwangsarbeit, Auflösung der Kolchosen, Beseitigung des Terrors, Rückgabe bürgerlicher Grundrechte - im Kampf um "eine lichtere Zukunft" für seine Heimat erschien Wlassow die Kollaboration als einzige Chance. In seiner Vorstellung ging er den Pakt dabei aber mit Deutschland ein, nicht mit den Nationalsozialisten.

Hitler über Wlassow: "Er ist gar nichts!"

"Es gibt deutsche Offiziere", so Wlassow angesichts des Elends der russischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern, "die den russischen Menschen helfen wollen. Sie haben mir ihre Hilfe zugesagt. Ich habe mich entschlossen, den Weg an ihrer Seite zu gehen."

Nach Gesprächen mit dem baltendeutschen Hauptmann Wilfried Strik-Strikfeldt, Abteilung "Fremde Heere Ost", ging er auf das Angebot ein, eine antibolschewistische Armee zu gründen. Als Freiwillige dienten damals schon eine halbe Million ehemalige Rotarmisten in deutschen Einheiten; jede Einheit beschäftigte ein Dutzend freiwillige russische "Hiwis", unbewaffnete Hilfswillige.

Der fast zwei Meter große Mann mit dem kantigen Gesicht und den dicken Brillengläsern weigerte sich aber, die deutsche Uniform zu tragen. Er war russischer Patriot. Mit Antisemitismus hatte er nichts im Sinn - was seine Gegner in Gestapo und Propagandaministerium warnend vorbrachten. Dort hieß es: "Die Wlassow-Bewegung ist nicht nationalsozialistisch. Wichtig ist, dass eine Bekämpfung des Judentums nicht erfolgt, die Judenfrage überhaupt nicht als solche anerkannt wird."

Hohe deutsche Militärs sympathisierten mit Wlassow, der spätere Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg sah in ihm einen "russischen de Gaulle an der Spitze einer freien Gegenregierung und einer (antibolschewistischen) Befreiungsarmee". Hitler indes verachtete den russischen "Untermenschen": "Er ist gar nichts." Himmler bezeichnete Wlassow als "Schwein". Goebbels wiederum zeigte sich beeindruckt und beschrieb den "energischen Heerführer" in seinem Tagebuch als "äußerst intelligent".

Doch die deutschen Fronten mussten noch zusammenbrechen, bis Wlassow und seine deutschen Betreuer in der Spitze des NS-Staates Gehör fanden. "Sie werden sich erst an uns wenden, wenn sie ihren dummen Hochmut verlieren und um ihr Leben kämpfen", hatte Wlassow schon im Herbst 1943 vorausgesagt.

"Das Vaterland retten"

Am 14. November 1944 war dieser Punkt erreicht. Endlich konnte der General "auf slawischem Boden" (der Prager Burg) in Anwesenheit von Diplomaten und hohen Politikern das "Komitee zur Befreiung der Völker Russlands" proklamieren. Es hatte den Status einer unabhängigen russischen Regierung: "Um das Vaterland zu retten," sagte Wlassow, "sind wir ein ehrliches Bündnis mit Deutschland eingegangen." Im Januar 1945 wurde sein Freiwilligenheer, die "Russkaja Oswoboditelnaja Armija" (ROA), als eine mit dem deutschen Staat verbündete Armee deklariert.

Auf der grauen Uniform trugen die ROA-Kämpfer als Emblem das blaue Andreaskreuz auf weißem Grund. Sie kämpften am Boden wie auch für Görings Luftwaffe und kamen am 13. April 1945 beim erfolgreichen Angriff auf einen sowjetischen Brückenkopf an der Oder zum Einsatz.

Doch der Krieg war nicht mehr zu gewinnen, das wusste auch Wlassow und sah seinen Untergang Anfang 1945 schon vorher: "Verlieren wir diesen Kampf, und das ist sehr wahrscheinlich, so wird man mich und alle meine Mitstreiter zu Verrätern, Söldlingen des Faschismus und zu Henkern am eigenen Volk erklären."

Am 12. Mai 1945, vier Tage nach der deutschen Kapitulation, begann sich das zu bewahrheiten: Auf dem Rückweg von Gesprächen mit einem US-Kommandeur stoppten sowjetische Soldaten Wlassows Wagen. Die US-Eskorte leistete keinen Widerstand. Gemäß dem von Stalin ausgehandelten Repatriierungsabkommen wurde Wlassow ausgeliefert - wie auch Millionen weitere Russen aus anderen westlichen Ländern.

Tod am Galgen

Der Traum des abtrünnigen Generals von einem neuen Russland endete ein Jahr danach am Galgen: Am 2. August 1946 wurden Wlassow sowie neun seiner Generäle im berüchtigten Gefängnis der Geheimdienstzentrale Lubjanka gehenkt. Auch für die mehr als 125.000 Soldaten seiner Armee gab es keine Gnade, wie Veteranen der weißrussischen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch für ihr Buch "Secondhand-Zeit" anvertrauten: "Junge Kerle, in unserem Alter ... Panzersoldaten banden sie an ihre Panzer, ließen den Motor an ... und fuhren los, in verschiedene Richtungen ... Sie wurden in Stücke gerissen ... Verräter! Aber waren sie wirklich alle Verräter?"

Einer der gefangenen Wlassow-Soldaten habe seinen Vater rächen wollen, den die Geheimpolizei erschossen hatte, berichteten die Veteranen. Ein anderer habe nicht im deutschen Lager sterben wollen. Alexander Solschenizyn, der als Dissident Wlassow in sowjetischen Lagern begegnet war, gab in seinem "Archipel Gulag" zu bedenken: "Man sollte sich vielleicht überlegen, wer die größere Schuld dafür trägt, im Bündnis mit dem ärgsten Feind die Waffen gegen das Vaterland erhoben zu haben: Diese Jungen oder das altehrwürdige Vaterland?"

Inzwischen hat sich das "Vaterland" einen Mythos geschaffen, der die Vergangenheit umdeutet und den missliebigen General aus den Geschichtsbüchern verdrängt: Gefeiert für den Sieg vor Moskau 1941 werden in russischen Kinos statt Wlassow nun 28 Soldaten und ihr Anführer Generalmajor Iwan Panfilow. Zur Premiere Ende 2016 kam Präsident Wladimir Putin persönlich.

Dass die populäre Story der Panfilow-Märtyrer pure Fiktion ist, stört kaum jemanden. Dabei hatte die militärische Oberstaatsanwaltschaft genau das schon 1948 nachgewiesen. Dieser Bericht wurde zuletzt 2015 bestätigt - zur allseitigen Empörung. Über den einst umjubelten Wlassow, beerdigt in einem Massengrab auf dem Gefängnisgelände, spricht hingegen niemand mehr.

Quelle : spiegel.de

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