Berlin hält Afghanistan für sicher genug

  01 Juni 2017    Gelesen: 757
Berlin hält Afghanistan für sicher genug
Bei einem verheerenden Anschlag sterben in Afghanistan wieder Zivilisten. Die Sicherheitslage im Land ist fragil wie lange nicht. Doch die Bundesregierung hält das nur vorübergehend davon ab, abgelehnte Asylbewerber dorthin zurückzuschicken.
Die Wortwahl könnte karger kaum ausfallen. In den nächsten Tagen werden keine abgelehnten Asylbewerber nach Afghanistan abgeschoben - weil, so heißt es in Regierungskreisen, die deutsche Botschaft in Kabul nun mal eine "wichtige logistische Rolle beim Empfang rückgeführter Personen" spielt.

Seit am Morgen ein Attentäter einen mit Sprengstoff befüllten Tanklaster in Botschaftsnähe gesprengt hat, mindestens 80 Menschen tötete und 350 verletzte, ist von dem Gebäude im Diplomatenviertel der afghanischen Hauptstadt nur noch ein Beton- und Stahlgerippe übriggeblieben. Der Botschaftsbetrieb ist auf unbestimmte Zeit eingestellt.

Innenminister Thomas de Maizière sagt, dass auch die Mitarbeiter der Botschaft - eine deutsche Diplomatin wurde leicht und ein afghanischer Mitarbeiter schwer verletzt - nun Wichtigeres zu tun hätten, als sich mit Abschiebungen zu beschäftigen.

In der Opposition löst diese Reaktion Empörung aus, denn sie zeigt: An Deutschlands Abschiebepraxis will die Bundesregierung trotz des verheerenden Anschlags in Kabul nur vorübergehend, nicht grundsätzlich etwas ändern.

"Das ist blanker Zynismus", sagt der grüne Außenpolitiker Omid Nouripour n-tv.de. Mitgefühl mit den Botschaftsmitarbeitern sei natürlich angebracht, sie bräuchten jetzt Betreuung. Doch das sei nur die halbe Miete. "Es ist offenkundig, dass die afghanischen Sicherheitskräfte bei allen Fortschritten noch nicht so weit sind, die Sicherheit im Land alleine zu garantieren." Abschiebungen an den Hindukusch hält Nouripour angesichts des Terrors der Taliban und des Islamischen Staates (IS) für unverantwortlich.

Linksfraktionsvize Jan Korte nennt die Abschiebepolitik Berlins "haarsträubend" und "menschenverachtend". Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl spricht von einem "Skandal" und fordert eine umgehende Neubewertung der Sicherheitslage in Afghanistan.

"Entscheidung den Umständen des Tages geschuldet"

Von Teilnehmern der nicht-öffentlichen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses am Morgen des Anschlags, heißt es zwar, dass das Auswärtige Amt die Sicherheitslage nun erneut prüft. Doch das Ergebnis scheint bereits festzustehen.

Aus Regierungskreisen heißt es öffentlich zunächst nur, dass die Sicherheitslage ohnehin "fortlaufend" geprüft werde. Was eher ausweichend klingt. Die Minister der Koalition sind da weniger zurückhaltend. Innenminister de Maizière von der CDU und Außenminister Sigmar Gabriel von der SPD sind sich eigenen Angaben zufolge einig, dass in "maßvoller, bestimmter Weise" Abschiebungen nach Afghanistan "zumutbar und notwendig" seien, vor allem bei Straftätern. Die vorübergehende Aussetzung von Sammelflügen nach Kabul sei "keine Veränderung der generellen Linie, sondern (…) eine Entscheidung, die den Umständen des heutigen Tages geschuldet ist", so de Maizière.

2016 neuer Höchststand bei zivilen Opfer
Abschiebungen nach Afghanistan waren schon vor dem jüngsten Anschlag umstritten. Kenner des Landes sprechen von einer immer schlechteren Sicherheitslage. Was schon ein Blick auf die Ereignisse in Kabul in der ersten Hälfte dieses Jahres zu stützen scheint. Ein Mann sprengte sich im Februar vor dem Obersten Gericht der Hauptstadt selbst in die Luft: 22 Tote. Terroristen schossen im März sieben Stunden lang in einem Krankenhaus um sich und warfen Handgranaten in Patientenbetten: 49 Tote. Attentäter griffen im Mai einen Nato-Konvoi an: 8 Tote.

Auch in Masar-I-Sharif kam es immer wieder zu Zwischenfällen. Der größte: Taliban-Kämpfer griffen im April einen Stützpunkt der afghanischen Armee an: Mindestens 140 Tote.

Noch deutlicher wird das Ausmaß des Terrors beim Blick auf die Statistiken der vergangenen Jahre: Die Vereinten Nationen verzeichneten 2016 mit 11.500 zivilen Opfern, Toten und Verletzten, einen neuen Höchststand seit Beginn ihrer Dokumentation 2009. Die Sicherheitslage ist so problematisch, dass sie auch die Nato alarmiert, die seit dem Ende ihres Kampfeinsatzes dort eine Ausbildungsmission lokaler Kräfte anführt. Generäle des Bündnisses wendeten sich im vergangenen Monat an Generalsekretär Jens Stoltenberg und baten um mehr Soldaten. Bei einer Truppensteller-Konferenz Mitte Juni soll nun über eine Aufstockung um mehrere Tausend Ausbilder gesprochen werden.

Trotz dieser Entwicklungen pocht die Bundesregierung seit jeher darauf, dass die Sicherheitslage in Afghanistan zwar volatil sei, es aber im Lande genug sichere Rückzugsräume gebe, um Abschiebungen zu rechtfertigen. Kritiker halten von dieser Argumentation wenig. Entweder, weil sie ganz Afghanistan für unsicher halten, oder weil sie darauf verweisen, dass sich Afghanen in der dort sehr auf Stammeszugehörigkeit beruhenden Gesellschaftsordnung ihren Wohnort nicht so einfach aussuchen können.

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