Fleiß und Ehrgeiz

  23 September 2015    Gelesen: 875
Fleiß und Ehrgeiz
Viele Pädagogen sind beeindruckt vom Lernwillen der Flüchtlingskinder. Doch das Schulsystem steht vor einer gigantischen Herausforderung, weil Personal und Räume fehlen
Youssef langweilt sich im Morgenkreis der Willkommensklassen. Auf Deutsch Körperteile benennen, Kleidungsstücke aufzählen - all das ist für den Elfjährigen aus Syrien längst ein Kinderspiel. Nach vier Monaten Deutschunterricht wechselt er kommende Woche in eine reguläre fünfte Klasse.

Seine Sitznachbarin überragt er um zwei Köpfe. Sie hat noch Schwierigkeiten. Die Artikel lässt sie gern weg und sagt dann: „Ich habe Hose an.“ Freundlich korrigiert Anna Schuhmacher das dunkelhaarige Mädchen.

Riesenherausforderung fürs deutsche Schulsystem

Die Lehrerin ist die Einzige im Raum, die keinen Migrationshintergrund hat. Nur sie spricht perfektes Deutsch. Der kleine Alaa verzweifelt an der Aussprache des Wortes Anspitzer. Bei ihm klingt es wie rau Schuhmacher spitzt die Lippen und spricht immer wieder vor, bis es stimmt.

Schuhmachers drei Kolleginnen stammen aus Polen, Bulgarien und Mazedonien. Der 28-jährigen Grundschulpädagogin ist klar, dass sie an einer Riesenherausforderung für das deutsche Schulsystem mitwirkt - der erfolgreichen Integration von 200.000 bis 250.000 schulpflichtigen Kindern, die in diesem Jahr unter den erwarteten 800.000 Flüchtlingen sind. Etwa die Hälfte bleiben laut Einschätzung von Experten auf Dauer in Deutschland.

In der Hauptstadt lernen knapp 5000 Kinder in 431 sogenannten Lerngruppen für Neuzugänge ohne Deutschkenntnisse (NoD), bekannter als Willkommensklassen. In diesen Gruppen mit je etwa einem Dutzend Kindern sollen sie zunächst Deutsch lernen. In anderen Bundesländern kommen sie von vornherein in die Regelklassen, werden aber zusätzlich in Deutsch gefördert, wie beispielsweise in Nordrhein-Westfalen.
Dort kennt man die Zahl der Flüchtlingskinder noch nicht einmal. Allerdings beschloss die Landesregierung jetzt wegen der „vermehrten Zuwanderung“ weitere 2625 Lehrer einzustellen. Darunter sind 900 Integrationsstellen. NRW hat - wie alle westlichen Bundesländer - lange Erfahrung mit Zuwandererkindern in den Schulen.

Schulen brauchen mehr Personal

Bildungsministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) sieht die Schulen gut aufgestellt: „Viele Flüchtlingskinder sind dankbar, dass sie die Schule besuchen dürfen. Sie sind motiviert, lernen gern und schnell. Mit ihren Lebenserfahrungen geben sie oft Impulse für das Lernen aller.“

Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands, sieht die Situation weniger rosig. Er erinnert an die oft misslungene Integration vieler Kinder aus der Türkei, dem Nahen Osten und vom Balkan in den vergangenen Jahrzehnten. Um ein Fiasko zu vermeiden, verlangt der Gymnasialfunktionär die „sofortige Einstellung“ von 3000 zusätzlichen Deutschlehrern. Meidinger warnt: „Nachhaltiger Erfolg zeigt sich erst an den weiterführenden Schulen.“

Es kommen vor allem Syrer

An der Berliner Bruno-H.-Bürgel-Grundschule gibt es seit den Sommerferien vier NoD-Lerngruppen mit knapp 50 Schülern. Die Hälfte davon kommt aus Syrien. Das kann sich jederzeit ändern. Auf die Fluktuation reagieren Kollegium und Sekretariat trotz großen logistischen Aufwands mit „deutscher Flexibilität“, ganz wie es jüngst Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte. Jeden Tag kann ein neues Kind dazukommen. Gerade wird im Nebenraum der elfjährige Christian aus der Ukraine aufgenommen.

Es kamen und kommen vor allem Syrer, Somalier und Eritreer. Die Kinder seien hochmotiviert, schwärmt Konrektor Lutz Bassin: „Was ihnen an Deutschkenntnissen noch fehlt, gleichen sie durch Eifer und Ehrgeiz aus.“Auch seine Kollegin Schuhmacher ist beeindruckt, „wie schnell sie Deutsch lernen und wie toll sie sich entwickeln, wenn wir sie optimal unterstützen“.

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