Merkels Ausführungen – sie betont extra, da sie die Wirkung ihrer Worte richtig einschätzt, Politik sei "manchmal auch hart" – sind schonungslos. Sie kommen regelrecht brutal rüber, zumal sie mit dem Mädchen wie mit einer Erwachsenen spricht. Aber inhaltlich sind sie korrekt. Merkel kritisiert auch die lange Wartezeit bis zur Entscheidung eines Asylantrags, der im Fall der Familie Reems tatsächlich eine Zumutung für die Betroffenen ist. Dabei stellt Merkel fest: "Es werden manche auch wieder zurückgehen müssen."
Reem weint. Es ist herzzerreißend. Die CDU-Vorsitzende versucht, das Mädchen, das bald für kurze Zeit zum bundesweiten Medienstar wird, zu trösten und streichelt es. Das wirkt äußerst ungelenk, auch weil sie völlig deplatziert lobt: "Du hast das doch prima gemacht." Man ahnt, dass Merkel nicht besonders häufig irgendjemanden liebkost. Aber immerhin: Die sonst so kühl und berechnend wirkende Regierungschefin zeigt Emotionen. Ach, wie nett, könnte man meinen.
Sturm der Entrüstung
Ein beachtlicher Teil der sogenannten Internetgemeinde sah es damals anders. Merkel wurde in den sozialen Medien der Eiseskälte bezichtigt und an den Pranger gestellt. Rechtschaffende entluden ihre Wut unter dem Hashtag #merkelstreichelt. So nicht, Frau Kanzlerin! Nicht mit uns! Lang lebe Reem! Und zwar in Deutschland!!!
Die Geschichte hatte ein Happy End. Reem darf bleiben, was sicher auch mit dem öffentlich erzeugten Druck zu tun hatte, aber in jedem Fall gut und richtig ist. Denn sie ist nach allem, was von dem Mädchen und ihrer Familie bekannt ist, vorbildlich integriert. Reem spricht fließend Deutsch, hat offenkundig viele Freunde. Und jemanden jahrelang auf eine Entscheidung über einen Asylantrag warten zu lassen, ist unmenschlich.
Die Kanzlerin, die das Zustandekommen eines Einwanderungsgesetzes über Jahre blockiert hatte, brachte im Gespräch mit Reem noch andere Botschaften unters Volk, die in der Hysterie um die Tränen des Mädchens untergingen: "Libanon gilt jetzt nicht als ein Land, was nun, sagen wir mal, direkt einen Bürgerkrieg hat." Und: "Wir haben Menschen, die sind in noch größerer Not", nämlich Bürgerkriegsflüchtlinge. Deshalb: "Wir werden nicht alle Menschen" aus libanesischen Flüchtlingslagern "aufnehmen können". Und weiter führte Merkel aus: "Wenn wir jetzt sagen: Ihr könnt alle kommen, ihr könnt alle aus Afrika kommen. Das können wir auch nicht schaffen."
"Die Beste nach meinem Papa und Mama"
Rund ein Jahr später, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle, behauptet die Regierungschefin exakt das Gegenteil: "Wir schaffen das." Jetzt geht es vorwiegend um Syrer, in deren Land durchaus ein Bürgerkrieg tobt. Dennoch darf gerne darüber spekuliert werden, ob die Kanzlerin, die sich in der Regel stark von der öffentlichen Meinung und Umfragen leiten lässt, anders auf die Flüchtlingswelle reagiert hätte, statt sie mit ihrem anmaßenden "Wir schaffen das" eher noch zu forcieren, wenn sie Reem nie begegnet wäre. Möglich ist aber auch, dass Merkel einfach ein großes Herz hat, dass sie halt öffentlich nur selten zeigt.
Nun, eine Welle mit einer Million Flüchtlingen später, hat Merkel wieder einem Asylantragsteller die Rechtslage erklärt. In einer ZDF-Sendung beginnt der Syrer, der sich als Ahmet aus Duisburg vorstellt, seine Ausführungen mit einer Erklärung an die Adresse der Kanzlerin. "Ich liebe Sie." Zur Begründung sagt er, Merkel sei "die Beste nach meinem Papa und Mama, weil sie mit Herz arbeitet".
Ahmet, der ordentlich Deutsch kann, bescheinigt sich, in den ersten zwei Jahren in der Bundesrepublik "einen großen Schritt nach vorne" gekommen zu sein. Allerdings gebe es "kleine Punkte, wo ich keine Lösung finden kann". Zum Beispiel der Familiennachzug. "Ich bin verheiratet und meine Frau ist in Syrien." Der Antrag liege ebenso wie der zur Anerkennung seines syrischen Zertifikats als Physiotherapeut bei den Behörden.
"Ich will nicht Tschüss sagen"
Seine Aufenthaltserlaubnis gelte bis Mai 2019, was ihn bedrücke, führt der Syrer aus. Er zahle Steuern und komme für die Miete seiner Wohnung selbst auf. "Ich will keine Hilfe vom Sozialamt oder vom Jobcenter." Staatliche Stütze habe er nicht in Syrien, der Türkei oder Frankreich bekommen. "Ich habe ein gutes Leben hier aufgebaut." Deshalb: "Ich will nicht Tschüss sagen." Wie im Fall Reems ist dieses Ansinnen nachvollziehbar, zumal er sich offenkundig um Integration bemüht.
Merkels Antwort ist abermals schonungslos. Man könnte auch sagen: eiskalt. Nur ist sie noch vorsichtiger, wie man an den "Vielleichts" in ihren Sätzen erkennt. Sie erklärt ihm die Rechtslage. Dabei spart Merkel aus, dass Frankreich ein sicheres EU-Drittland ist und er eigentlich dort seinen Antrag hätte stellen müssen. Die Kanzlerin bittet den 22-Jährigen – wie damals Reem – um Verständnis dafür, dass die Behörden länger bräuchten, "als Sie sich das vielleicht wünschen". Auch verspricht sie ihm – wie damals bei Reem – keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung: "Wir müssen dann schauen, wie ist die Lage in Syrien. Kann man da auch wieder vielleicht zurückgehen."
Als der Flüchtling nachhakt und erklärt: "Ich kann nicht ohne meine Frau leben", bügelt ihn Merkel ab. Ihre Antwort trägt zynische Züge. "Ja, ja, Sie haben ja immerhin schon den Antrag gestellt." Sie verstehe ihn, sagt die Kanzlerin mit zartem Lächeln auf dem Mund: "Halten Sie noch ein bisschen durch."
Der Syrer bricht nicht in Tränen aus, sondern lacht freundlich. Zu einer Liebkosung lässt Merkel sich nicht hinreißen. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wird sie den Mann – im Gegensatz zu Reem – auch nicht ins Kanzleramt einladen, um der Öffentlichkeit zu signalisieren: Ich habe verstanden. Es fehlt an öffentlichem Druck. Der Shitstorm blieb aus. Den Hashtag #Merkelstreicheltnichtmehr gibt es ebenso wenig wie #Ahmetmussbleiben.
Vielleicht liegt es daran, dass der Syrer ein Mann ist und kein trauriges, kleines Mädchen. Es gibt jedoch einen weiteren, wichtigeren Grund. Merkel hat die Erklärung unbeabsichtigt selbst gegeben, als sie dem Syrer mitteilt: "Schauen Sie, in dem Jahr sind 890.000 Menschen gekommen. Ich habe die humanitäre Notlage erkannt. Aber haben Sie bitte auch Verständnis, dass wir natürlich auch schauen müssen – und wir tun unser Bestes." In ihrer wie immer vagen Art sagt Merkel den TV-Zuschauern nicht, nach sie mit "wir müssen auch schauen" meint. Dass wir "das" schaffen? Bei ihren Wahlkampfreden hat Merkel stets den ehren- und hauptamtlichen Helfern gedankt, die sich für Flüchtlinge engagiert haben. Aber sie betont auch immer, dass sich ein Jahr wie 2015 nicht wiederholen dürfe und werde. Streicheleinheiten für Flüchtlinge gibt es keine mehr.
Quelle: n-tv.de
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