50. Geburtstag von Boris Becker

  22 November 2017    Gelesen: 1143
50. Geburtstag von Boris Becker
Boris Becker hat Geburtstag. Wie gratuliert man einem Siebzehnjährigen zum Fünfzigsten? Dirk Gieselmann versucht es.

Geburtstage sind nur die halbe Wahrheit. Körper mögen fünfzig werden, aber das sagt nichts über die Menschen, die in ihnen wohnen. Es gibt manche, die in einem magischen Augenblick ihrer Jugend aufgehört haben, innerlich zu altern, in der hellen Sekunde, als sie sich zu ihrer wahren Gestalt erhoben.

Bei den einen war es der erste Kuss, der die Zeit anhielt, bei den anderen der erste Rausch, der erste dicke Fisch, den sie allein an Land zogen, der erste Sonnenaufgang, den sie sahen, ohne zuvor geschlafen zu haben, oder der erste Refrain eines Liedes, das sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen. "May you build a ladder to the stars", singt Bob Dylan, "And climb on every rung. May you stay forever young."

Die ewige Jugend kann ein Segen sein, auch ein Fluch, und manchmal ist sie beides. Vor allem dann, wenn ein Mensch in dem Moment aufgehört hat zu altern, als er das größte Tennisturnier der Welt gewann und als Siebzehnjähriger unsterblich wurde. "Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen", sagte Boris Becker am Ende der Dokumentation "Der Spieler", die die ARD im Vorfeld seines fünfzigsten Geburtstags zeigte. "Mir geht es gut, ich bin erwachsen." Es klang wie der letzte, beschwichtigende Satz eines abendlichen Telefongesprächs zwischen einem Mann und seinen Eltern, die ihn immer noch täglich anrufen, um sicherzugehen, dass er etwas Anständiges gegessen und genug Geld im Portemonnaie hat.

Und auch wenn sie ihm vielleicht wünschen, dass er sein Leben im Griff hat, sich selbst wünschen sie es nicht. Denn das hieße ja, dass sie keinen Grund mehr hätten, ihn täglich anzurufen. Diesen Fünfzigjährigen, der, ob er will oder nicht, für immer siebzehn bleiben wird.

"Ich bin nicht euer Boris", sagte Becker in der ARD-Dokumentation mit einer Gereiztheit, als wären ihm allzu viele feuchte Küsse auf die Wange gedrückt worden. Als hielte er die Liebe nicht mehr aus, die ihm zuteil wird. Millionen Deutsche verehren ihn als ihren letzten Helden, nachdem Max Schmeling und Fritz Walter von ihnen gegangen sind und die Lichtgestalt Franz Beckenbauer verglüht ist. Und mehr als diese haben sie ihn immer schon vereinnahmt und umklammert, sie sehen in ihm den Sohn, den Enkel, Bruder oder Cousin. Den Bobbele.

Becker ist ein Mann, in dessen Gesicht das Leben bereits tiefe Spuren hinterlassen hat, über den die Nation aber noch immer nachdenkt, als wäre er nicht alt genug, um den Führerschein zu machen. Als müsste sie ihm hinaushelfen aus der Pubertät, die doch nichts anderes ist als sein ziemlich kompliziertes Leben, für das er endlich selbst verantwortlich sein möchte. Jetzt tut er wieder so erwachsen, so geht das schon seit Jahren: Das mag die Reaktion vieler Fernsehzuschauer auf Beckers Ansinnen gewesen sein, aus der Familie auszutreten. Sie werden auch weiterhin Kontrollanrufe tätigen bei ihrem Bobbele und würden ihm, wenn er sie ließe, am liebsten die Hemden bügeln und eine Frau auswählen, die zu ihm passt.

7. Juli 1985 - der Tag seiner zweiten Geburt

"Ist das für dich ein Wahnsinn, dass du jetzt ein nationales Heiligtum geworden bist?", fragte Thomas Gottschalk ihn ein paar Monate nach seinem ersten Wimbledon-Sieg in einem Fernsehinterview. "Manchmal ist es schon ein bisschen komisch für mich, dass mich jetzt plötzlich alle kennenlernen wollen, ne?", sagte Becker lächelnd. "Ich denke, dass ich zweimal geboren wurde. Das zweite Mal war am 7. Juli."

Beckers fünfzigster Geburtstag am heutigen 22. November irritiert viele umso mehr, als er ja vor ihren Augen zur Welt kam, und das war nun mal am 7. Juli. Dem Tag seiner zweiten Geburt, als Siebzehnjähriger, der nicht mehr altern würde.

Er gewann damals das Turnier von Wimbledon als erster Ungesetzter, als erster Deutscher, als erster Leimener ohnehin und als erster Mensch, der wie in einem mittelmäßigen Hollywoodstreifen von diesseits der Mattscheibe auf den Centre Court gesaugt worden war. Als einer von ihnen, wie nicht nur die Leimener, sondern die meisten Deutschen fanden, als ihr Sohn, Enkel, Bruder und Cousin, dem sie zwar Großes zugetraut hatten, Größeres jedenfalls, als sie selbst zu leisten imstande gewesen wären, den Gewinn der Wahl zum Sportler des Jahres im Rhein-Neckar-Kreis vielleicht, aber doch nicht diesen kolossalen Sieg.

Als er dann nach vier Sätzen und dem letzten Aufschlag, den sein Gegner Kevin Curren nicht mehr erreichte, tatsächlich die Arme zum Himmel empor riss und mit seinem Veitstanz Staubwölkchen vom verdorrten Grün aufwirbelte, war es, als wäre er in einer selbstgebauten Seifenkiste auf dem Mond gelandet. Und obwohl er so irrsinnig jung war, oder vielleicht genau deswegen, erhob er sich in dieser hellen Sekunde zu seiner wahren Gestalt. Er hieß nun nicht mehr nur Boris Becker, er war es auch. Als hätte dieser Name darauf gewartet, mit seiner vollen Bedeutung aufgeladen zu werden, der Name eines Helden, einer Marke und eines Versprechens.

Boris Beckers Aufgabe, die die Deutschen ihm erteilten und die er sofort verstand, war es fortan, weitere kolossale Siege zu erringen, so viele wie möglich. Siege, die sie ihm auch dann noch nicht vollends zutrauen wollten, als sie ihm schon längst zuzutrauen waren, einfach weil es so herrlich war, von ihm überwältigt zu sein. Und er begriff, dass er, gewissermaßen als Voraussetzung für die Überwältigung, für immer siebzehn bleiben müsste, der unterschätzte Champion, der Gigant in der Seifenkiste, der kindliche Kaiser.

Kevin McHale, der mit den Boston Celtics an der Seite von Larry Bird in den Achtzigern drei Mal die nordamerikanische Basketballmeisterschaft gewann, sagte unlängst, er wisse nun, mit sechzig Jahren, so viel über dieses Spiel, dass er der Beste aller Zeiten wäre, wenn sein hinfälliger Körper sein Wissen doch bloß noch umsetzen könnte. Das mag auf viele Sportler zutreffen, und man kann es tragisch finden, dass ihre physische Entwicklung der mentalen zuwiderläuft, aber Boris Becker hatte offenbar nie das Ziel, Erfahrung zu sammeln. Für ihn war jedes Spiel das erste, er kam nie aus der Routine, der Weisheit des Athleten, sondern stets aus der Intuition, der ungestümen Leidenschaft für die Chance, das Unmögliche möglich zu machen.

Die dazugehörige Bewegung war der Becker-Hecht, der waghalsige Sprung ins Ungewisse, in den Staub oder auf den Olymp. So hechtete er eigentlich unerreichbaren Netzrollern hinterher, so bog er Spiele um, die längst verloren schienen, so überwältigte er seine Zuschauer immer wieder, weil es ja seine Aufgabe war. Er vollbrachte Wunder, weil er nicht anders konnte, so wie ein Biber nicht anders kann, als Holz zu nagen, weil ihm sonst die Zähne durch den Schädel wachsen.

1986 siegte er erneut in Wimbledon und gewann innerhalb von vierzehn Tagen, zwischen dem 19. Oktober und dem 2. November, drei Turniere auf drei Kontinenten. Er war ein Einzelsportler, der nicht mehr nur für sich spielte, sondern für ein ganzes Land, das alsbald süchtig wurde nach seinen Siegen. Und so, augenscheinlich ohne jede Erfahrung, verlor er auch, man sah ihn hadern, fluchen, sich selbst beschimpfen, als hätte er plötzlich verlernt, Tennis zu spielen. Da diese Niederlagen so eng mit seinen Siegen verknüpft waren, da seine größten Siege oft erst aus der drohenden Niederlage entstanden, aus der Überwindung seiner selbst, wurde das Land auch süchtig nach seinem Scheitern und ist es heute noch.

Der späte Boris Becker versucht weiterhin, die Bälle zu retournieren, die ihm ein unsichtbarer Lendl von der Grundlinie des Schicksals aus um die Ohren haut, er hat nur leider keinen Schläger mehr in der Hand und hechtet allzu oft in den Staub des Boulevards.

Man möchte ihm vieles wünschen, aber auch keine Grenze überschreiten

Wie gratuliert man nun einem Siebzehnjährigen zum fünfzigsten Geburtstag? Ein 22. November ist kein besonders guter Tag zum Feiern, no money, no hope, November, so heißt es ja. Becker soll, wie man allenthalben hört, ziemlich pleite sein, und was soll man dazu noch sagen, was sein ehemaliger Manager Ion Tiriac nicht schon gesagt hätte?

Man möchte ihm, wenn man ihn, einen jungen Mann in einem alten Körper, sich auf Krücken dahinschleppen sieht, gern gute Besserung wünschen. Doch selbst das wäre schon unangemessen.

Hat Boris Becker je Mitleid gebraucht, um sich aus aussichtslosen Lagen zu befreien? Hat man ihm, im Tiebreak gegen Edberg oder McEnroe, gute Besserung gewünscht? Dass er wieder aufsteht, hat man gehofft, auch auf den Hecht im letzten Moment, auf ein Wunder, das nur er vollbringen konnte. Man möchte ihm so vieles wünschen, aber eben auch keine Grenze überschreiten, die er jetzt zieht. Er sei, hat er gesagt, nicht unser Boris. Es gehe ihm gut, er sei erwachsen.

Man möchte sich beinah dafür entschuldigen, ihn einmal so verehrt zu haben, dass es ihm offenbar zur Last geworden ist, aber das würde voraussetzen, dass man es wirklich bereut. Und tut man das denn? Würde er sein Leben eintauschen wollen gegen das eines Mannes, der heute einfach nur fünfzig wird, und keinen interessiert es? Wünscht er sich wirklich, nur einmal geboren zu sein?

Ob nun zu zwei Geburtstagen oder einem: Alles Gute, Boris Becker.

Quelle : spiegel.de

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