Ein Baustein der Reform ist die Aussetzung der Wehrpflicht. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass die aktuelle sicherheitspolitische Lage eine Wehrpflicht nicht mehr zwingend notwendig macht. Nach unserem Verständnis darf der Staat einen Zwangsdienst von seinen Bürgern aber nur dann einfordern, wenn die Sicherheit des Landes anders nicht zu gewährleisten ist. Deshalb haben wir zum 30. Juni 2011 die Pflicht zur Ableistung des Grundwehrdienstes ausgesetzt. Des Weiteren ist die Bundeswehr nur dann gut für die Zukunft aufgestellt, wenn sie nachhaltig finanziert ist. Dazu ist es notwendig, dass in den Streitkräften vorhandenes Optimierungspotenzial identifiziert und ausgenutzt wird. Herausforderungen liegen hier insbesondere in einer zu geringen Anzahl verfügbarer Kräfte für den Einsatz, weiter steigerbarer Durchhaltefähigkeit sowie langsamen Entscheidungsprozessen und Verfahren. Diese Lage erfordert eine Veränderung der Strukturen der Streitkräfte.
Was kann die Türkei aus der Bundeswehrreform lernen? Oder sind das zwei grundsätzlich verschiedene Konzepte von Militär?
Die Türkei hat relativ Zeitgleich zu Deutschland durch die Überarbeitung des „KirmiziKitap“ (Rotes Buch) im Jahre 2010 ebenfalls eine Neubewertung ihrer nationalen Sicherheitsstrategie vorgenommen. Dabei ist erkennbar, dass die Rahmenbedingungen für die Streitkräfte beider Länder recht unterschiedlich sind. Während Deutschland in der Mitte Europas nur durch Partner und Freunde umgeben ist, stellt sich die geostrategische Situation für die Türkei als NATO-Land am Ostflügel des Bündnisgebietes anders dar. Daraus resultiert ein in Teilen unterschiedlicher Aufgabenschwerpunkt beider Streitkräfte. Deshalb ist eine direkte Übertragung der Erfahrungen aus der anstehenden Bundeswehrreform auf die Streitkräfte der Türkei recht schwierig. Zudem ist die Bundeswehr – wie bereits erwähnt – seit wenigen Tagen eine Freiwilligenarmee ohne Wehrpflichtige, während in der Türkei heute mehr als 300.000 Wehrpflichtige ihren Dienst leisten und auch weiterhin leisten werden. Aufgrund der guten und engen militärpolitischen und militärischen Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei kommen die im Rahmen der Bundeswehrreform gemachten Erfahrungen der türkischen Streitkräfte zum Beispiel aus den zahlreichen Auslandseinsätzen in Afghanistan, im Kosovo oder bei UNIFIL dazu. Beide Streitkräfte werden so auch weiterhin voneinander profitieren können.
Sie waren im Mai dieses Jahres in der Türkei und haben in Istanbul an der internationalen Rüstungsmesse IDEF teilgenommen. Was waren ihre Eindrücke über die aktuelle Lage und über den Stand der türkischen Rüstungsindustrie?
Ich besuche die Rüstungsmesse IDEF in der Türkei regelmäßig und bin über die Entwicklung der letzten zehn Jahre beeindruckt. Neben der Vielzahl der internationalen Aussteller ist auffällig, dass türkische Firmen sich als eigenständige Entwickler und Produzenten neuer Waffensysteme präsentieren. Dies zeigt den technologischen Fortschritt der letzten zehn Jahre in der Türkei. Die heutige Leistungsfähigkeit der türkischen Industrie zeigt neben dem klaren Willen der letzten Jahrzehnte auch die gelungene Umsetzung, zu den Spitzentechnologien aufzuschließen. Besonders freut mich die Kooperation der türkischen und der deutschen Industrie. Hier möchte ich die Zusammenarbeit beim U-Bootbau hervorheben, wie auch die Kooperation des türkischen Heeres mit der Firma KMW beim Bau des Brückenlegepanzers LEGUAN 1. Die Partnerschaften zwischen unseren Industrien sind zu beiderseitigem Vorteil, weil sich Synergieeffekte ausnutzen lassen und man voneinander lernt.
Die Türkei hat das Ziel, eine eigene Rüstungsindustrie aufzubauen. Welche Rolle spielt die deutsch-türkische Zusammenarbeit in diesem Kontext?
Die deutsch-türkische Rüstungskooperation findet auf mehreren Ebenen statt, die untereinander vernetzt sind. Dies sind zum einen die seit Jahren stattfindenden Stabs- und Rüstungsgespräche im Bereich der Marine und der Luftwaffe sowie zum anderen die gemeinsame deutsch-türkische Rüstungskommission, die im Juni 2011 in Ankara zum zweiten Mal tagte. Unter dem Dach dieser Kommission fand auch zum wiederholten Mal ein Treffen der Industrien beider Länder statt. Ziel war unter anderem die Suche nach Kooperationsmöglichkeiten sowohl auf amtlicher als auch auf industrieller Ebene. Dieses Treffen hat bei allen Teilnehmern eine positive Resonanz hinterlassen. Zukünftige Kooperationen werden sicherlich die türkische Rüstungsindustrie bei ihrer eigenständigen Entwicklung stärken. Daneben gibt es außerdem regelmäßige Übereinkünfte relevanter Industrieverbände beider Länder. Auf industrieller Ebene wurde eine Vereinbarung über eine Zusammenarbeit beim Industrieprojekt TALARION (advancedunmannedairealvehicle) zwischen den Firmen CASSADIAN und TAI geschlossen.
Die meisten deutschen Rüstungsexporte gehen in die Türkei. Was ist der Umfang der Exporte und was sind die aktuellen wichtigsten Exportwaren?
Derzeit liegt der Rüstungsexportbericht für das Jahr 2009 vor. Mit erteilten Einzelausfuhrgenehmigungen im Wert von 45,6 Mio. Euro zählt die Türkei zu den wichtigen Empfängern deutscher Rüstungsgüter. Der Schwerpunkt der Exporte in die Türkei betraf in der jüngeren Vergangenheit den Sektor der Landsysteme (z.B. LEOPARD 1 und 2 sowie Brückenlegepanzer LEGUAN 1) und der Abschluss des Vertrages über den Bau von sechs außenluftunabhängigen U-Booten.
Der nahe Osten erlebt seit Anfang des Jahres einen „Arabischen Frühling“. Wie schätzen Sie die politischen Veränderungen ein und welche Rolle könnten Deutschland und die Türkei in der Region spielen?
Die Reformbewegungen in zahlreichen arabischen Staaten haben mich tief beeindruckt. Dass sich insbesondere viele junge Menschen von Repressionen der Machthaber nicht einschüchtern ließen und für demokratische Grundrechte auf die Straße gegangen sind, lässt mich zuversichtlich in die Zukunft sehen. Wir erleben gerade die einzigartige Chance, dass sich die Menschen der arabischen Staaten von den diktatorischen Systemen emanzipieren und ihre Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Die Bundesregierung unterstützt die Reformbewegung ausdrücklich und steht beratend zur Seite. Dass der Türkei in dieser Zeit eine Schlüsselrolle zugeschrieben wird und von einem Modellcharakter für muslimische Staaten gesprochen wird, ist ein gutes Signal an die türkische Regierung. Der Türkei und der EU bietet sich die Chance, partnerschaftlich die Reformbewegung zu unterstützen.
Es sind seit langem keine Kapitel in dem EU-Beitrittsprozess der Türkei eröffnet worden. Sehen Sie noch irgendeine Perspektive für die EU-Mitgliedschaft der Türkei?
In der Tat stagnieren derzeit die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei. Vor allem die ungeklärte Zypernfrage blockiert die Eröffnung zahlreicher Kapitel. Aber auch nationale Vorbehalte mancher EU-Staaten sind nicht gerade förderlich. Allerdings haben gerade die letzten Monate gezeigt, dass die Türkei ein selbstbewusster Partner der EU werden kann. So sollte verstärkt, auch unabhängig vom EU-Beitritt, über Kooperationen und strategische Bündnisse gesprochen werden.
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